Kapitel 11

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Die Sonnenstrahlen in Visenyas Gesicht rissen sie aus ihrem Schlaf. Langsam öffnete sie die Augen und nahm das laute Gezwitscher der Vögel wahr. Ihr Blick wanderte quer durch ihren Raum und musterte diesen. Bunte Bilder hingen an der Wand, im Wechsel mit kraftvoll leuchtenden roten Vorhängen. Vor ihrem Fenster befand sich ein großer, runder Tisch mit prunkvollen Lederstühlen. Voller Tatendrang erhob sie sich aus ihrem Bett und nahm ein Bad, welches von ihrer Dienerin vorbereitet wurde. Ihre Lederrüstung, die ihr Vater ihr in Volantis fertigen ließ, hing über einem Stuhl. Visenya liebte ihre Rüstung, sie trug sie immer beim Kampftraining. Das weiße Leder wurde mit Drachenschuppen an beiden Armen sowie an der Brust und am Bauch verarbeitet. Langsam verließ sie die Wanne und trocknete ihren Körper ab. Vorsichtig strich sie über die Drachenschuppen des Oberteiles. Die Hose war eine einfache, weiße Lederhose mit kleinen Drachenschuppen als Akzente an der Außenseite. Visenya zog ihre Trainingskleidung an und stülpte ihre weißen Stiefel über die lange Hose. Ihre Haare flechtete sie aufwändig an ihrer rechten Kopfseite zusammen. Ein starkes Klopfen an der Tür ließ sie aufschrecken. "Herein", sagte sie zaghaft und blickte neugierig zur Tür. Ihr Vater trat ein und hatte etwas in seiner Hand. "Meine Tochter, ich möchte dir etwas schenken zur Feier deiner Vermählung...'', seine Worte klangen vorsichtig und nachdenklich. Noch nie hatte Visenya ihren Vater so gehört. "Vater...", seufzte sie und ging auf ihn zu. Rahaemion hielt seiner Tochter einen Gurt mit einem Schwert in einer Scheide hin. Visenya ergriff das Schwert und zog es aus der Scheide. Sie blickte auf valyrischen Stahl, welcher unter dem Sonnenlicht noch stärker schimmerte. "Dies ist das Erbstück unseres Hauses - Weißkralle. Mein Vater übergab es mir bei meiner Vermählung mit deiner Mutter und mein Vater bekam es wiederum von seinem Vater." Visenya fehlten die Worte, sie sah ihrem Vater in die Augen. Sie spürte, wie er mit seinen Gefühlen kämpfte, zeigte er doch sonst nie Emotionen. Ohne weitere Worte steckte sie das Schwert zurück in die Scheide und band es sich gründlich um die Hüfte. "Meine valyrische Naturgewalt.", hauchte er ihr noch entgegen, während er sich langsam umdrehte und sich aufmachte, zu gehen. Visenya sah ihrem Vater hinterher, als er ihr Gemach verließ und die Tür leise hinter sich schloss. Ihre Hand ruhte auf dem Griff von Weißkralle. Mit einem Lächeln im Gesicht eilte sie raus aus dem Gemach, durch die Gänge des Roten Bergfrieds Richtung Trainingsgelände.

Dort angekommen, erspähte sie Prinz Aemond, wie er mit einem Ritter der Königsgarde trainierte. Erstaunt beobachtete sie das Geschehen, der junge Prinz war ein exzellenter Kämpfer. Als Prinz Aemond Lady Visenya erblickte, lachte er vergnügt. "Seid Ihr hier, um zu trainieren?" Ohne weitere Aufforderung ergriff Visenya ein Trainingsschwert und signalisierte Prinz Aemond, dass sie bereit für einen Kampf sei. Unsicher stand Prinz Aemond vor ihr, er musste bislang noch nie in einem Schwertkampf gegen eine Frau antreten. Sie sah aus wie eine Kriegerin, also musste er wissen, ob sie auch so kämpfen konnte. Im nächsten Augenblick machte Aemond den ersten Schlag und Visenya konnte leicht ausweichen. Der junge Prinz verzweifelte mit jedem Schlag mehr und mehr, weil diese junge Frau viel zu flink war. Entweder parierte sie oder wich ohne große Probleme aus. Respektvoll brummte er. "Mmh."

Weder Visenya noch Aemond bemerkten, dass sie von Weitem beobachtet wurden. Prinz Aegon hatte sich an das Geländer gelehnt und sah herunter auf den Trainingsbereich. Jeden Schritt von Visenya versuchte er, sich einzuprägen. Als er sie in der großen Halle sah, war er direkt vernarrt in diese Frau und er war über sich selbst verblüfft, dass er jedes Mal, wenn er sie sah, sich mehr zu ihr hingezogen fühlte. Bis vor Kurzem war ihm doch alles egal gewesen..die Krone..die Familie. Er wollte eigentlich mit einem Schiff wegsegeln und alle Verpflichtungen hinter sich lassen. Jahrelang hatte er das Gefühl, dass er nie genug sein würde in den Augen seiner Eltern. Als er jedoch in die violetten Augen von Visenya geblickt hatte, wusste er, dass er genau dort war, wo er sein musste und wollte. "Pass auf, dass dir die Augen nicht ausfallen," hörte er plötzlich eine Frauenstimme hinter sich und drehte sich erschrocken um. Vor ihm stand Daenyra, welche sich über ihre ehrlichen Worte wunderte und ihn entschuldigend ansah. Aegon ersparte ihr die Peinlichkeit und lächelte sie an, sein Blick wanderte aber sofort wieder hinunter zum Trainingsgelände zu Visenya. Daenyra entglitt ein Seufzen, als sie Aemond beim Kampf mit Visenya beobachtete. Aegon fiel dies sofort auf. "Kannst du auch kämpfen?", fragte er Daenyra plötzlich, welche als Antwort lachend die Stufen hinunter lief. Verwirrt folgte ihr Aegon und beide hatten sofort die Aufmerksamkeit von Visenya und Aemond.

"Wir sollten die Frauen miteinander kämpfen lassen", schlug Aegon vor und klatschte begeistert von seiner eigenen Idee in seine Hände. Sein Bruder verdrehte das Auge und machte mürrisch Platz für die beiden Frauen. Zaghaft hielt er Daenyra sein Trainingsschwert hin, welche es zögerlich annahm. Daenyra sah ihm nicht ins Gesicht und drehte sich direkt zu Visenya. Die Frauen sahen sich lange in die Augen. Aemond fiel die Spannung zwischen den Beiden direkt auf und er schaute sich das Spektakel neugierig an. Visenya stürmte auf Daenyra zu, ein harter, schneller Schlagabtausch erfolgte, was Aemond regelrecht beeindruckte. Daenyra blendete alles um sie herum aus, sie konzentrierte sich einzig und allein auf ihr Gegenüber. Dieser Kampf zog viele Zuschauer an und ein Raunen ging bei jedem Schlag durch die Reihen. Eine Unachtsamkeit seitens Daenyra ließ es zu, dass Visenya ihr das Schwert aus der Hand schlagen konnte. Doch gerade als Visenya ihr den endgültigen Schlag geben wollte, zückte sie ihren valyrischen Dolch und hielt diesen Visenya an den Hals. Das zarte Klingen des Dolches ertönte in Visenyas Ohren. Ihr Blick wanderte von Daenyras Augen hinunter zu dem Dolch in ihrer Hand. Niemals würde sie diesen Dolch vergessen können. "Mandia", flüsterten beide Frauen gleichzeitig und fielen sich sogleich in die Arme. Tränen liefen Visenyas Wange hinunter, als diese ihrer alten Freundin und Schwester in die Augen sah. Ein Kuss auf Daenyras Stirn ließ die beiden Prinzen verwirrt zu den Frauen gehen. "Du hast viel dazu gelernt", lachte Visenya. "Der Boden hat mich oft genug berührt", erwiderte Daenyra amüsiert. Aemond erkannte Daenyra nicht wieder, sie war wie ausgewechselt, während ihr zartes, sorgenfreies Lachen in seinen Ohren erklang. "Du bist es wirklich! Bei dem Essen hatte ich so ein seltsames Gefühl... Ich war mir nicht sicher, ob dich ansprechen sollte vor all den Leuten...", stotterte Visenya vor sich hin. Daenyra sah sie mit großen Augen an, als ob sie ihre Gedanken teilte. "Es sind so viele Jahre vergangen, was hast du gemacht..wo warst du gewesen?", plapperte Visenya wie ein Wasserfall weiter. Daenyra konnte ihre Gefühle kaum zügeln, sie umarmte Visenya erneut, da sie Angst hatte, dass dies nur ein Traum sei. "Du hattest gesagt, wir sehen uns wieder." Schnell nickte Visenya und legte einen Arm um Daenyra, als die beiden Prinzen sich zu ihnen stellten. "Ihr seid Schwestern?", fragte Aegon erstaunt und seine Stirn runzelte sich nachdenklich. "Schwestern im Geiste", lachte Daenyra. Aemond war noch immer verblüfft. Daenyras Augen leuchteten förmlich, er war gefesselt von ihnen. Ohne es zu bemerken, machte er ein paar Schritte auf sie zu. Aegon beobachtete seinen jüngeren Bruder und grinste, als er wieder dieses Funkeln in seinem Auge sah. Daenyra bemerkte die plötzliche Nähe von Aemond und sah ihn lachend an. Als sie erkannte, wie nah er ihr wirklich gekommen war, erstarrte sie jedoch. Bevor jedoch Aemond etwas sagen konnte, unterbrach ein Diener den Moment und forderte ihn auf, ihm zu folgen, da die Königin nach ihm verlangte. Erbost brummte er "Mmh" und folgte dem Diener mit Widerwillen.

Im Gemach seiner Mutter angekommen, sah er sie am Fenster stehen. Ihre Miene wirkte besorgt, wechselte aber dann zu einem zarten Lächeln, als sie ihn erblickte. "Mein Sohn," entglitt es ihr vorsichtig, als sie auf ihn zuging. "Es gibt etwas mit dir zu besprechen." Aemond setzte sich auf einen Stuhl am Kamin und nickte ihr nur zu, als Zeichen, dass sie fortfahren sollte. "Das, was du beim Essen gesagt hast...wegen Daenyra...", als sie ihren Gedanken weiterführen wollte, stand Aemond ruckartig auf und stellte sich vor seine Mutter. Zögerlich drehte sie sich von ihm weg und blickte aus dem Fenster, bevor sie dann weitersprach. "Wieso willst du sie heiraten?" "Sie ist die Richtige, Mutter." Alicent ließ den Kopf in den Nacken fallen, ihre Augen waren geschlossen. "Du kennst sie doch nicht mal." "Ich weiß genug, um zu wissen, dass ich sie will." Seine Mutter war ihm stets heilig, denn sie stand ihm immer bei, egal wie oft die anderen Jungs ihn gehänselt hatten. Sie war die Person, die ihm ein offenes Ohr anbot und sich um ihn sorgte. Selbst als er damals sein Auge verlor, kämpfte sie wie ein wildes Tier um Gerechtigkeit. Doch nun hatte er das Gefühl, dass sie im Unrecht war...er spürte es.

Nein, er wusste es.

Er war sich noch nie in einer Sache so sicher gewesen wie mit Daenyra. Doch er fand keine Worte, um dies nur ansatzweise erklären zu können. Langsam kam seine Mutter auf ihn zu und legte seinen Kopf zwischen ihre Hände. Ihr Blick brannte sich förmlich in seinen Verstand. "Ich suche dir eine passende Frau." Wütend haute er ihre Hände weg und brachte ein wenig Abstand zwischen sich und seine Mutter. "Wenn das dann alles ist...", schnaubte er erbost und ging schnellen Schrittes aus ihrem Gemach. Das laute Zuknallen der Tür hallte durch die Gänge. Alicent sah verzweifelt die geschlossene Tür an und senkte den Kopf.


Die Kinder der SchattenOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz