Kapitel 10

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Das Rauschen des Meeres breitete sich vorsichtig in ihren Ohren aus. Daenyra lag da und lauschte den gelegentlich peitschenden Wellen. Irgendetwas fühlte sich komisch an. Sie hatte dieses dumpfe Gefühl inmitten ihres Brustkorbes, welches sie einzuengen versuchte. Plötzlich erhob sich Daenyra aus ihrem Bett. Wie aus einem schlimmen Traum gerissen, stand sie ängstlich vor ihrem Fenster. Es war mitten in der Nacht, die Stille umhüllte die Dunkelheit. Selbst das Rauschen des Meeres nahm Daenyra gar nicht mehr wahr. Sie hatte nur einen Gedanken - sie musste es finden. Dabei stellte sich ihr gar nicht erst die Frage, was sie überhaupt zu finden versuchte. In ihr wuchs nur das Verlangen, herauszufinden, was genau sie antrieb.

Daenyras Kopf pochte unaufhörlich, sie spürte nichts außer das sich immer größer ausbreitende Summen in ihren Gedanken. Sie wanderte durch die verlassenen, dunklen Gänge, ihren Blick stets nach vorne gerichtet. Plötzlich blieb sie stehen und berührte die Wand des Flures. Die Steine des Gemäuers waren kalt und rau. Ein bebendes Gefühl wühlte sie innerlich auf, das Summen in ihrem Kopf wollte nicht ruhen. Wo sollte sie nur hin? Sie schlich durch einen Gang, völlig unbemerkt.

Daenyra wusste nicht, was sie tun sollte, alsbald sie auf einmal anfing zu rennen. Sie rannte und rannte, keuchend nach Luft schnappend und panisch suchend, als ob ein schreckliches Monster sie verfolgen würde. Ihre schnellen Schritte fanden kein Ende. Sie blickte weiter nach vorne, aber die Dunkelheit verschloss ihr die Sicht. Immer weiter und weiter, schwankend, schloss sie schlagartig ihre Augen. Vielleicht ist dies alles nur ein Traum, sie wird gleich erwachen - dachte sie erwartungsvoll.

Einige Zeit verstrich und sie öffnete ihre Augen erneut. Sie blickte nach unten - ihre Füße standen ganz still. Der Mondschein blendete sie und sie versuchte ihre Augen vor dem Licht zu schützen. Da erblickte sie ihn - riesig und in voller Blüte, mit roten ja gar blutroten Blättern, die sich im Wind langsam hin- und herbewegten. Sie stand vor dem alten Wehrholzbaum im Götterhain und betrachtete ihn gefesselt, wie ein Wolf den Mond anhimmelte. Von einer Sekunde auf die nächste erlosch das Summen. Nein, das konnte kein Traum sein. Was hatte dies zu bedeuten?, dachte Daenyra sich.

Urplötzlich wurde sie durch ein lautes Knacksen aus ihren Gedanken gerissen und erschrak. „Na sieh mal einer an!", verlautete eine tiefe Stimme. Diese Stimme kannte sie, sie war ihr irgendwie vertraut. Daenyra fühlte sich nun nicht mehr voller Furcht, die Stimme schien sie beruhigt zu haben. Stille breitete sich aus - das beklemmende Gefühl in ihrem Brustkorb war verflogen. Sie drehte sich um und inmitten der Dunkelheit sah sie die Gestalt an, die ihr gegenüber auf einer Bank saß. Erst erkannte sie die Person nicht, aber als der Mondschein heller wurde, weil die Wolken sich verzogen hatten, wusste sie, wem die Stimme gehörte.

„Aemond?", rief sie ihm fragend zu. „Was machst du hier mitten in der Nacht?....alleine?", entgegnete er und ging langsam auf Daenyra zu. Sie fing an zu zittern, weil der kühle Wind ihr durch den dünnen Stoff ihres Nachtkleides wehte. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Verlangen mitten in der Nacht ohne wärmende Kleidung die Gänge zu durchwandern wohl nicht die beste Idee war. Zögerlich antwortete Daenyra: „Nichts....ich....was kümmert es dich?" Aemond stellte sich vor sie, musterte sie von unten nach oben. Sein Blick streifte ab auf den alten Wehrholzbaum, der im Mondlicht so wunderschön glänzte. „Nunja.... ich habe mich gefragt, wie du an den Wachen vorbeigekommen bist. Dafür ist schon einiges an Geschick nötig.", erwiderte Aemond und erblickte ihre jetzt fast schon ängstlich schauenden Augen. Daenyra erinnerte sich an den Anblick der Wachen. Die kalten Steine der Wand lösten bei ihr erneut einen Schrecken aus. Es war, als hätte sie etwas zu verbergen. Daenyras Blick beruhigte sich wieder und sie sprach mit ernster Stimmlage: „Ich werde jetzt gehen." Sie blickte nach unten und ging an Aemond vorbei. Dieser ergriff auf einmal ihren Arm, weil er wusste, dass etwas nicht stimmte. Daenyra drehte sich ruckartig um und die beiden guckten sich tief in die Augen, mehr fragend als vertraut. Plötzlich hörte sie die Melodie, die sie kannte. Es war die Melodie aus ihren vorherigen Visionen. Sie wurde immer lauter und immer lauter, dann folgte ein Bild - Nebel umhüllte alles. Das Bild lichtete sich langsam und sie sah einen Strand. Dort waren zwei Menschen, die sich die Hände hielten. Augenblicklich sah sie das Bildnis ganz klar - es war eine Vision, wie Aemond und sie vermählt wurden.

So schnell wie die Vision kam, so schnell wurde Daenyra auch von ihr losgerissen. Die beiden standen immer noch so regungslos da, ihre Blicke vertieft ineinander. Seine Hand umfasste nach wie vor ihren Arm. Als Aemond merkte, dass Daenyra sich regte, lockerte er seine Hand und ließ ihren Arm los. Der Schock in beiden Gesichtern war nicht zu verkennen. Daenyra ließ ihren Blick auf den Boden schweifen. Sie war zu verlegen und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, aber alles woran sie nur denken konnte, war das Bild, was sie zuvor gesehen hatte. Plötzlich fühlte sie den unwiderruflichen Drang zu gehen und schaute Aemond noch einmal in sein fragendes Gesicht. Dieser stand weiterhin bewegungslos da, als wüsste er auch nicht, was er nun tun sollte. Daenyra konnte sich letztendlich zusammenreißen und drehte sich um. Sie ging ohne ein Wort zu sagen zurück in ihr Gemach. Aemond stand noch immer dort im Mondschein vor dem Wehrholzbaum. Er schien irritiert zu sein, aber dennoch konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er ihr hinterher sah.


Die Kinder der SchattenWhere stories live. Discover now