Kapitel 4

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Weitere Tage vergingen, bis Visenya Volantis erreichte. Mit jedem Schritt, der sie näher an ihr Zuhause brachte, überkam sie mehr und mehr ein mulmiges Gefühl. Alles, was sie die letzten Tage herausgefunden hatte, ließ sie an ihrem bisherigen Leben zweifeln. Volantis war immer ihre Heimat, hier hatte sie alles gelernt, was wichtig war. Die Maester hatten ihr Zugang zu ein paar alten Schriften Valyrias gewehrt, welche vor dessen Untergang gerettet werden konnten. Visenya schien immer zu wissen, was wahr war und was nicht. Dennoch sollte dies nun alles eine große Lüge sein?

"Visenya", riss sie eine verzweifelte Frauenstimme aus ihren Gedanken. Ihre Füße hatten sie bis zu den Stufen ihres Zuhauses geführt und ihre violetten Augen blickten in das traurige Gesicht ihrer Mutter. Tiefe Falten lagen auf ihrer Stirn, sie schien sehr in Sorge zu sein. Ohne einen weiteren Augenblick zu warten, stürmte Visenyas Mutter auf das junge Mädchen zu und umarmte sie. "Wo warst du denn nur, dein Vater und ich haben uns riesige Sorgen gemacht." "Es tut mir Leid..", seufzte Visenya und senkte den Blick. Viele Gedanken kreisten in ihrem Kopf herum, nur wusste sie nicht, wie sie alles erklären sollte. "Komm erstmal herein, wie siehst du überhaupt aus." Ihre Mutter zerrte sie die Stufen hoch ins Gebäude, wo auch schon die ersten Dienerinnen warteten. Visenyas Mutter machte eine Handbewegung und schon eilten die Dienerinnen zu Visenya und begleiteten sie in ihr Zimmer, um sie dort zu waschen und neue Kleidung anzuziehen.

Visenya hatte das ganze Theater über sich ergehen lassen, sie wollte ihre Eltern nicht schon vor dem kommenden Gespräch verstimmen. Vorsichtig ging sie die Stufen herunter in den großen, vergoldeten Saal. Sie erinnerte sich, wie sie als kleines Kind sich immer hinter den dicken Säulen versteckt hatte, damit die Dienerinnen sie nicht finden konnten. Ein zartes Lächeln umspielte ihre Lippen, welches jedoch sofort verschwand, als ihr Blick zum Ende des Saales glitt und auf ihrem Vater ruhen blieb. Dieser sah sie vorwurfsvoll an und winkte ihr zu, was sie als Aufforderung verstand, sich schleunigst zu ihm zu bewegen. Visenya seufzte in Gedanken und eilte an die Seite ihres Vaters. Dieser betrachtete seine Tochter von oben bis unten. "Meine Tochter, du bist volljährig und heiratsfähig...du kannst dich vor der Verpflichtung zu heiraten nicht verstecken. Ich weiß nicht, wo du gewesen bist die ganzen Tage, aber ich vertraue darauf, dass du keine Dummheiten angestellt hast." "Vertrauen ist ein guter Punkt", schnaubte Visenya leicht wütend. Ihr Vater zog eine Augenbraue hoch. "Ich war in Valyria mit einer Freundin." Als Visenya diese Worte aussprach, schauten sich ihre Eltern verzweifelt an. Der Blick ihrer Mutter hatte etwas Flehendes. Visenya beobachtete beide behutsam. Ihre Eltern hatten beide das typische valyrische Haar und blaue Augen. Niemand hatte auch nur einmal eine Vermutung geäußert, dass die beiden nicht ihre Eltern sein würden und trotzdem wusste Visenya, dass dies alles eine Lüge sein musste.

"Du hast den Drachengeist in dir", offenbarte plötzlich ihre Mutter. "Vaenys!" entglitt es ihrem Vater zornig. "Wir können es ihr nicht ewig verschweigen, die Wahrheit kommt am Ende immer ans Licht und sieh sie dir doch an, Rahaemion. Unsere Tochter ist alleine nach Valyria gereist...ihren nächsten Ausflug.." "Es wird keinen weiteren Ausflug mehr geben!" unterbrach Visenyas Vater ihre Mutter. "Bin ich überhaupt eure Tochter?", vorwurfsvoll sah sie in die Augen ihrer Eltern. Ihr Vater trat einen Schritt in ihre Richtung und strich sich mit seiner Hand über sein Gesicht, bevor er einmal mehr wütend ein - und wieder ausatmete. " Vor 14 Jahren kam eine junge Schattenbinderin mit einem Neugeborenen an die Stufen unseres Palastes. Sie offenbarte uns, dass du etwas Besonderes seist und den Drachengeist in dir tragen würdest. Deine Mutter nahm dich entgegen und brachte dich zu mir. Wir hatten keinen Zweifel, dass die Worte der Schattenbinderin gelogen waren, denn deine Augen leuchteten damals so kraftvoll violett, wie es einst die Magiertürme Valyrias taten. Dein Haar...", ihr Vater ließ eine Strähne ihres Haares durch seine Finger gleiten, als er seinen Gedanken weiter ausführte. "...dein Haar ist so strahlend blond, wie es einst nur die ersten Valyrer ihrer Zeit besaßen. Du spiegelst die pure Schönheit Valyrias wieder." Lange sah ihr Vater Visenya in die Augen, als würde er selbst in ihnen versinken. "Und..der Drachengeist?", flüsterte Visenya verwirrt und sah an ihrem Vater vorbei in die Augen ihrer Mutter. Vaenys trat an die Seite ihres Mannes und legte ihre linke Hand behutsam auf die Schulter ihrer Tochter. "Wir wissen leider nicht, was genau damals bei deiner Geburt passierte aber du hast den Drachengeist in dir und er ruht. Eine uralte Legende besagt, dass das Drachenblut aus Valyria uns alle retten wird und den Glanz Valyrias nie vergessen lassen würde." "So wurde es zumindest immer weitergetragen von Drachenreiter zu Drachenreiter. Aber nach dem Untergang Valyrias traute sich keiner mehr, einen Gedanken an diese Legende zu verschwenden. Zu groß war die Trauer und der Schmerz, der diese Katastrophe mit sich brachte." Rahaemion neigte seinen Kopf zur Seite und sah seine junge Tochter aufmunternd an. "Du bist zwar nicht unsere leibliche Tochter, aber das alte Blut Valyrias fließt durch unser aller Blut und das verbindet uns.''

Visenya trat einen Schritt zurück und versuchte, das Ausgesprochene zu verstehen. "Ich habe also irgendeine uralte Kraft in mir...?"flüsterte Visenya leise. "Mein Kind, wir wissen leider selbst nicht mehr über den Drachengeist und die alten Schriften sind damals zerstört worden." Visenya fühlte sich unwissender als vor dem Gespräch. Die Wahrheit wurde zwar ausgesprochen, aber mehr Fragen entstanden dadurch und sie hatte keine Möglichkeit, Antworten zu bekommen.

"Visenya, deine Pflicht ist...'', fing Rahaemion an, doch seine Tochter unterbrach ihn sofort. "Zu heiraten." Ihr Vater nickte ihr langsam zu. "Ihr könnt mir sämtliche Söhne der Lords vorstellen und ich akzeptiere es, mir diese auch alle anzusehen und kennenzulernen. Aber ich habe nur eine Bedingung...ich möchte selbst wählen dürfen, wen ich zu meinem Mann nehme." Entschlossen sah Visenya ihre Eltern an. Rahaemion und Vaenys tauschten Blicke aus, bis Rahaemion sich wieder seiner Tochter zuwandte. "So sei es."

Jahre vergingen.

Visenya wurde eine noch strahlendere Schönheit, als sie es schon in jungen Jahren war. Sämtliche Lords aus ganz Essos stellten dem Hause Mellarys ihre Söhne vor, doch keiner schien Visenya zu gefallen. Ihr Vater wurde von Jahr zu Jahr mürrischer, Visenyas Mutter konnte ihn jedoch stets beruhigen und versicherte ihm, dass er auf das Schicksal vertrauen solle.

Als Visenya ihr zwanzigstes Lebensjahr erreichte, konnte ihr Vater nicht länger warten. Visenya hatte alle guten Häuser aus ganz Essos abgelehnt. Stirnrunzelnd saß Rahaemion auf seinem Stuhl und ließ den Kopf in seine Hände fallen, als plötzlich ein Diener herein trat. Vaenys saß zu seiner linken am Tisch und winkte den Diener herbei. Dieser überreichte ein Schreiben, welches als Siegel einen dreiköpfigen Drachen trug. Vaenys sah ihren Mann überrascht an und überreichte ihm den Brief. Langsam öffnete Rahaemion den Brief und laß diesen vor.

Hiermit verkündet König Viserys aus dem Hause Targaryen,erster seines Namens, König der Andalen und der Ersten Menschen, Herr der Sieben Königslande, Beschützer des Reiches, dass es in fünf Tagen ein großes Fest in Königsmund geben wird. Die Prinzen Aegon und Aemond suchen Gemahlinnen und jedes Haus aus ganz Westeros hat die Chance, ihre Töchter dem Königshaus vorzustellen.

Vaenys fasste ihrem Gemahl an die Schulter. "Mein Liebster, Aegon...wie der Eroberer...und Visenya?", mit einem Lächeln sah sie Rahaemion an. "Visenya, wie die Schwestergemahlin? "Du denkst, dass dies ein Zeichen des Schicksals ist?" Lachend stand Rahaemion auf und ging im Saal auf und ab. "Es werden nur Häuser aus Westeros eingeladen...woher stammt dieser Brief?", fragend sah Rahaemion seinen Diener an. Dieser berichtete ihm von einem Reisenden aus Westeros. "Das Haus Targaryen stammt wie wir aus Valyria, wieso sollten sie uns nicht willkommen heißen.", sprach Vaenys zu ihrem Gemahl und nickte ihm auffordernd zu. Rahaemion drehte sich erneut zu seinem Diener.

"Nun denn, bereitet alles für die Reise vor. Wir gehen nach Königsmund."


Die Kinder der SchattenWhere stories live. Discover now