Kapitel 9

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Laut schallten die Schritte ihrer neuen Schuhe durch den kalten Flur, als Daenyra auf die dunklen Schatten der Steinwand blickte. "Fünfundzwanzig, Sechsundzwanzig, Siebenundzwanzig, Achtundzwanzig, Neunundzwanzig, Dreizig." Sie zählte die Lichter an der Mauer entlang ihres Weges, welche den Flur in der Dämmerung dieses lauen Abends hell erleuchteten. Sie wollte sich ablenken, um nicht über das bevorstehende Festessen nachdenken zu müssen. Am letzten Kerzenlicht blieb Daenyra still stehen und betrachtete es nachdenklich. Es ertönte Musik aus dem Raum, vor dem sie stand. Sie blickte auf ihr wunderschönes, schwarzes Kleid, welches mit roten Verzierungen aufwändig bestickt war. Ein solch prachtvolles Kleid durfte sie noch niemals zuvor tragen, auch wenn sie sich dadurch ein wenig unbehaglich fühlte. Es war, als ob eine schwere Last auf ihren doch so schmalen Schultern ruhte. Ein tiefes Ausatmen entwich aus ihrem Mund, als sie das geöffnete Tor des Saales ansah und das darin aufkommende Geschwätz vernahm. Daenyra ging in den Saal mit zögernden Schritten und fand eine runde Tafel mit mehreren Menschen vor. Die liebevoll gestalteten Dekorationen, bestehend aus gemütlichem Kerzenlicht und edlem Besteck, prunkvollen Vasen und meisterlichen Gemälden an der Wand, fielen ihr sofort ins Auge. Sie schaute in die Runde und entdeckte Viserys, der mittig gegenüber des Einganges am Tisch saß. Daenyra verbeugte sich kurz vor ihm mit einem winzigen Knicks. Viserys war sichtlich erfreut, sie zu sehen und nickte ihr sanftmütig zu. Sie sah nach rechts, wo ihre Eltern mit ihren beiden Brüdern saßen. Gottfried war noch zu klein für ein solches Fest, er schlief wohl schon lange in seinem Zimmer. An der linken Ecke des Tisches, rechts neben Viserys, saß Alicent und ein älterer Mann. Er schien wohl der Königin Vater zu sein. Daenyra bemerkte die kleine Brosche in Form einer Hand an seiner Brust. Als sie Aemond am linken Rand des Tisches entdeckte, wurde ihr plötzlich ganz warm und ihr Herz schlug ein wenig lauter als sonst. Irgendetwas an ihm faszinierte sie. Daenyra schaute verlegen weiter auf Prinz Aegon, der neben seinem Bruder saß und ihm lachend einen Becher mit Wein aufschwatzen wollte. Am unteren Ende des Tisches nun angekommen, nur einige wenige Meter von Daenyra entfernt, befanden sich drei weitere Personen, die ihr völlig unbekannt waren. Die junge Frau neben Aegon stand noch und schaute auf diesen herab. Man hörte ihr herzliches Lachen, so als ob sie zusammen mit Aegon über Aemond scherzte. Sie musste wohl die Frau sein, die Aegon für seine Vermählung auserwählt hatte. Daenyra verweilte wohl abermals zu lange in ihren Gedanken, denn die Frau drehte sich plötzlich um zu ihr, als Daenyra den Saal betrat und sich umschaute. Als ihre Blicke sich trafen, verspürte Daenyra augenblicklich ein Kribbeln auf ihrer Stirn und hielt den Atem an. Diese Augen - dachte Daenyra - das kann nicht sein! Diese leuchtend violetten Augen würde sie immer wiedererkennen. Wie konnte das nur sein? Es fühlte sich an, als ob ihr Herz für einen kurzen Moment stehen bliebe. Die junge Frau gegenüber schien genauso irritiert zu sein wie Daenyra selbst. Nach diesem Augenblick des Schreckens lächelten sich beide Frauen zögerlich an und wandten sich dann verlegen ab. Diese klägliche Situation war Prinz Aemond in seiner stillen Ecke des Tisches nicht entgangen. Daenyra erspähte den noch letzten freien Platz in der Runde, rechts neben den drei unbekannten Personen und eilte zum Stuhl, um sich schnellstmöglich hinzusetzen. Auch die andere Frau ließ sich endlich nieder. Sobald Daenyra saß, erhaschte sie einen Blick nach rechts zu ihrem Bruder Jacaerys, der sie aufgezwungen belächelte.

Viserys unterbrach die merkwürdige Stille mit den Worten "Lasst das Essen nun servieren!". Die Diener eilten herbei und brachten die köstlichsten Speisen an den Tisch. Es roch zu gut, um sie einfach nur stehen zu lassen. Als das Essen nun zum Verspeisen auf dem Tisch bereit stand, sahen alle zu Viserys, als ob sie darauf warteten, dass er den Befehl gebe, anzufangen. Er sah erschöpft aus, aber dennoch auf eine seltsame Art glücklich. Man konnte ihm seine Krankheit nicht nur aufgrund seiner Wunden anmerken. Viserys schaute sich um und bemerkte sehr wohl die innige Stille seiner Tochter Rhaenyra. Ihm wurde klar, dass seine Frau Alicent und Rhaenyra bislang nicht ein Wort miteinander gesprochen hatten, obgleich sie doch einst die besten Freundinnen in ihrer Jugend waren. "Ich möchte auf meine Familie trinken", schaute Viserys lächelnd in die Runde. "Ein Hoch auf Aegon und seine zukünftige Gemahlin! Mein Sohn kann sich glücklich schätzen, solch eine Schönheit an seiner Seite zu wissen." Alle erhoben ihre Becher und tranken einen kräftigen Schluck auf das junge Paar. "Desweiteren möchte ich meine neue Enkelin willkommen heißen. Auf dass sie sich hier freudig empfangen und wohl fühlen werde! Neunzehn Jahre haben wir schon verpasst. Nicht umsonst bedeutet die Vergangenheit, dass sie bereits vergangen ist. In diesem Sinne, lasst uns die Kriegsbeile begraben. Wir sind eine Familie und daran wird sich nichts ändern!" Erneut hoben alle ihre Becher und tranken auf Daenyra. Plötzlich stand Rhaenyra auf und schaute in die Runde, ihren Becher hoch in die Luft haltend. "Ich erhebe meinen Becher auf die Königin. Ich liebe meinen Vater, aber ich kenne bei Weitem niemanden, der würdevoller und loyaler an seiner Seite stand als die Königin Alicent." "Eure ehrenvollen Worte bewegen mich zutiefst, Prinzessin. Ihr werdet eine gute Königin sein. Auch auf Euch!", entgegnete Alicent mit einem wehmütigen Blick in Richtung Rhaenyra und hob erneut ihren Becher. Die trübe Stimmung war wie weggeblasen, als plötzlich ein Barde anfing, Musik zu spielen. Alle lachten und erfreuten sich an dem wundervollen Fest. Aegon stand auf und trat vor seine Verlobte. Er hielt ihr liebevoll seine Hand hin und bat sie um einen Tanz. Visenya war sichtlich erfreut und erhob sich nickend. Als die beiden vergnügt miteinander tanzten, lauschte Daenyra den Gesprächen. Viserys unterhielt sich aufgeregt mit dem Lord aus Volantis. Es war, als ob er jeden einzelnen Zentimeter von Essos aufzeichnen wollte, so sehr fragte er Rahaemion über Volantis und Valyria aus. "Gibt es Drachen in Volantis?", befragte Viserys ihn neugierig. "Wir werden zwar die Drachenherren genannt, bedauerlicherweise sind die letzten Drachen, die unsere Vorfahren mit nach Volantis nehmen konnten, bereits vor vielen Jahren verstorben.", erwiderte der Lord. Viserys war sichtlich enttäuscht. Auch er verlor vor vielen Jahren seinen Drachen Balerion, den mächtigsten und größten aller Drachen.

"Sag mal Schwester..." - mit diesen Worten wurde Daenyras Aufmerksamkeit von dem belebten Gespräch über Essos auf ihren Bruder Lucerys gelenkt. "...du bist doch jetzt schon so alt. Warum hast du eigentlich niemanden, der dich heiratet?", stichelte er. Daenyra hörte wie er lachte und schaute in sein grinsendes Gesicht. "Naja...ich komme aus einer anderen Welt, weißt du. Ich kenne diese Art von Vermählungen nicht. Generell sind nur die wenigsten Leute in Braavos verheiratet gewesen, denke ich.", antwortete Daenyra mit unsicherer und nachdenklicher Stimme. "Dort sind die Menschen freier und nehmen sich einfach, was sie begehren.", fuhr sie fort. "Du meinst also, du warst frei und dich wollte trotzdem niemand?" Lucerys fing nun gänzlich laut zu lachen an. Sein Bruder Jacaerys schubste ihn zustimmend mit dem Ellenbogen an und lachte herzhaft mit. "Wenn sie sich nur halb soviel für Männer interessieren würde wie für ihre Träumereien, dann würde sie mit Sicherheit jemanden finden, der sie mag!", verspottete Jacaerys sie. Daenyra schaute sofort verlegen auf den Teller vor ihr und umklammerte ihr Messer in der rechten Hand so fest, als ob sie eine Faust ballen wollte. Wie sehr ich sie doch hasse - dachte sie sich im Stillen. Sie fühlte sich unbehaglich, gar fehl am Platz. Unweigerlich musste sie an ihr Leben in Braavos denken. In ihr wuchs der Drang aufzustehen und weglaufen zu müssen. Zu oft hatte sie solche Erniedrigungen dort bereits erfahren. "Schluss jetzt, wir wollen doch nett zueinander sein, Jungs! Habt ihr beiden Dummköpfe denn schon wieder vergessen, was euer Großvater eben gesagt hat?", rief Daemon zornig. Seine Worte waren einschneidend, die beiden Burschen waren sofort still und schauten Daemon verängstigt an.

Den anderen war dieses Gespräch nicht entgangen. Die plötzliche Stille war für alle sehr beklemmend. Aemond sah Daenyras Faust an, wie ein Löwe, der auf seine Beute wartete. Er hob seinen Blick und schaute die beiden Jungen mit einem abfälligen Grinsen an. Auch er wurde oft in seiner Kindheit von ihnen geärgert. Umso mehr gefiel es ihm, dass sie von Daemon zurechtgewiesen wurden. "Wir werden schon eine gute Partie für dich finden, da bin ich mir sicher!", sprach Viserys aufmunterungsvoll und nickte Daenyra zu. Diese lockerte augenblicklich ihre Hand. Sie wollte doch nicht mehr wütend sein, aber ihr fiel es sehr schwer, sich der Situation zu beugen. Daenyra wollte keinen Mann - lieber würde sie alleine sterben, als jemanden zu haben, der sie so verärgerte, wie es alle taten.

"Das wäre ja dann wohl ich, oder nicht?", klang eine tiefe, eindrucksvolle Stimme aus der Ecke des Tisches. Die unerträgliche Stille ließ nicht nach. Plötzlich schauten sich alle verwirrt an, alsbald sich ihre Blicke auf Aemond richteten. Man konnte die Ratlosigkeit in ihren Augen sehen. Aemond saß nur still da, seine linke Hand auf den Tisch gelegt. Er klopfte mit seinen zwei Fingern auf den Tisch, so als ob er die Stille rhythmisch hinfort treiben wollte. Das waren seine einzigen Worte. Sein Grinsen verformte sich zu einem ernsten Gesichtsausdruck. "Wir wollen ja wohl mal nichts überstürzen, mein Sohn!", unterbrach Alicent das große Schweigen. "Lasst es euch schmecken, das Essen ist viel zu schade, um es vergehen zu lassen!" Zögerlich und sichtlich angespannt, packte sie die Hand ihres Sohnes und schaute ihn an. Aemond zog unverzüglich seine Hand weg und brachte nur ein mürrisches "Mhmm.." hervor. Der Barde spielte fortan wieder seine Melodie, da Alicent ihm wohl ein Zeichen gegeben haben musste. Als der Abend sich langsam dem Ende neigte, gingen alle in ihre Gemächer. Einige waren hocherfreut - andere konnten wohl aus lauter Verwirrung über diesen Abend sicherlich nicht so schnell einschlafen.


Die Kinder der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt