Kapitel 6

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Ein lautes Knarren ertönte, als das kleine Boot von Daenyra durch die seichten Wellen an Land gespült wurde und sich das Holz in den Sand biss. Sie war deutlich erleichtert, unversehrt an Land getrieben worden zu sein, da ihr der Händler am Hafen einer winzigen Stadt in der Meerenge nur sein rostigstes Gefährt zur Verfügung stellte. Ein Boot oder gar Schiff selbst zu lenken, das war neu für Daenyra und sie spürte deutlich den Schmerz in ihren Schultern. Vorsichtig stieg sie aus dem Boot, der Sand unter ihren Füßen knirschte ganz leise, als sie ein paar Schritte ging. Sie sah sich neugierig um. Die Bucht, in die sie getrieben wurde, war umgeben von hohen, riesigen Felsen. Der Wind peitschte das Meer auf und Wellen prallten mit voller Wucht gegen die hohen Felsbrocken. Sie drehte sich ganz langsam und ihr Blick blieb an einem schwarzen Gebäude haften, welches hoch oben auf dem Berg lag. Daenyra erkannte eine lange steinerne Brücke und zuckte zusammen. Es war das gleiche Bild, welches sie in ihrer Vision zuvor gesehen hatte. Jedoch stand auf dieser Brücke keine Frau. Daenyra reckte ihren Kopf zum Himmel und lauschte dem Wind, wie er an ihr vorbeizog. Da waren keineswegs irgendwelche Geräusche, die einem Drachengeschrei ähneln würden. Es war ganz still und leer an diesem Strand. Ein leichtes Unbehagen schlich sich durch ihren Körper. Ob es hier wohl auch Drachen gab oder ob dies nur ein Streich ihrer Vision war, fragte sich Daenyra während sie sich den Weg vom Strand hoch auf den Berg bahnte. Dort angekommen, stand sie vor der langen, steinernen Brücke, die sie nun überqueren musste, ehe sie dann endlich vor dem beeindruckenden Gebäude stand. Riesige Steinwände ummauerten die darin wohl lebenden Personen. Es erinnerte sie an Drachenstachel, da einige Wände eckig aus dem Gebäude herausstachen, wie bei einem Drachenrücken. Bevor Daenyra einen weiteren Schritt machen konnte, kamen ihr schon Wachen schnellen Schrittes entgegen. Sie sahen verwundert aus in ihren eisernen Rüstungen, die bei jedem Schritt mehr und mehr quietschten, weil der Stahl sich aneinander rieb. Ihre langen, weißen Tücher an ihren Schultern wehten im Wind. "Wer seid Ihr und was wollt Ihr hier?", fragte einer von ihnen mit einem von oben herab blickenden Gesicht. Daenyra war nur ärmlich gekleidet, ihr Gesicht und ihre Fingernägel dreckig vom Erlebten. Ihr Mantel war immer noch derjenige, der sie stets begleitete auf ihrer langen Reise durch die Welt. "Mein Name ist Daenyra und ich bin auf der Suche nach einer blonden Frau. Ich habe sie in einer meiner Visionen gesehen." Verwirrt schauten sich die beiden Wachen an. Daenyra beobachtete, wie sie Blicke austauschten und leise etwas tuschelten, bis eine Wache in dem Gebäude verschwand. "Wartet hier.", sprach die andere Wache und stellte sich mit verschränkten Armen vor Daenyra, als ob er ihr genauestens zeigen wollte, dass hier kein Durchkommen sei.

Nach wenigen Augenblicken öffneten sich die Tore erneut und eine mit schwarz-rotem Gewand bekleidete Frau trat hervor. Ihr Haar, welches lang und blond über ihren Schultern lag, sah genauso aus, wie Daenyra es besaß. Ihr folgte ein ebenso blonder Mann, dessen Blick ernst, aber dennoch fragend zu sein schien. Er trug auch eine Rüstung, jedoch war sie schwarz-rot und aus Leder. Beide traten vor Daenyra , musterten das junge Mädchen ausgiebig. Die Frau wagte sich noch einen weiteren Schritt vor und sah Daenyra tief in die Augen. "Das kann nicht sein..." flüsterte sie und hielt sich erschrocken eine Hand vor ihren Mund. "Kennst du dieses Mädchen, Rhaenyra?", überrascht wegen des Verhaltens, trat der Mann neben die blonde Frau. Daenyra fragte sich insgeheim, in welchem Verhältnis die beiden zueinander standen. "Sie ist unsere Tochter", offenbarte Rhaenyra leise, was alle Anwesenden wie versteinert dort stehen ließ.

Nach ein paar Augenblicken ergriff der Mann das Wort."Unsere Tochter?" Rhaenyra seufzte leise und schickte mit einem Blick sowie einem Nicken die Wachen fort. "Erinnerst du dich damals an die Nacht, als du mich tief durch Königsmund geführt hattest, Daemon?" Eindringlich sah Rhaenyra ihn an, bis er es verstand und kurz lachte. "Ihr seid meine Eltern?", fragte Daenyra vorsichtig. Sie war sichtlich überfordert und wusste nicht, wie sie mit der ganzen Situation umgehen sollte. Daenyra hatte eine Mutter gehabt, bis diese starb. Und nun sollten diese Personen ihre Familie sein? Ihre leibliche Mutter lebte also? Wieso aber wollte sie Daenyra nicht? Warum hat Quaithery sie bei Fremden abgegeben? Wo sie in Armut aufwachsen musste - während ihre Mutter scheinbar im Reichtum lebte.

Eine Umarmung von Rhaenyra riss Daenyra aus ihren Gedanken. Unbewusst legte sie ihre Arme um den Körper ihrer Mutter, aber sie fühlte sich sehr unbehaglich dabei. "Ich bin so froh, dich wiederzusehen." Als beide die Umarmung lösten, sah Daemon seine Tochter lange an. "Du bist das Ebenbild deiner Mutter". Daemon konnte sich sein leichtes Lächeln nicht verkneifen, er hatte sich immer eine gemeinsame Tochter mit Rhaenyra gewünscht. "Wieso bin ich nicht bei euch aufgewachsen?" Man hörte den Vorwurf aus Daenyras Stimme. Sie wollte dieses Wiedersehen nicht kaputt machen, aber sie war wütend. Wütend, dass ihre Eltern ein gutes Leben führten, während sie im Dreck lebte. Wütend, weil sie all das Leid erfahren musste und ihre leiblichen Eltern davon anscheinend nichts wissen wollten. "Als ich vor neunzehn Jahren schwanger war, musste ich dies verheimlichen. Damals waren Daemon und ich weder verheiratet, noch hatten wir schon zusammengefunden. Hätte man erfahren, dass es dich gibt, hätten einige versucht, dich umzubringen." Daenyra schluckte schwer. War dies nur eine Ausrede oder hatte ihre Mutter wirklich versucht, ihr Leben zu schützen?

Aus heiterem Himmel öffneten sich die Tore von Drachenstein. Rhaenyra, Daemon und Daenyra drehten sich ruckartig zu den Toren. Drei junge Burschen mit braunen Haaren kamen heraus und stellten sich zu Rhaenyra und Daemon. "Wer ist das?", fragte der Kleinste und sah Daenyra mit großen Augen an."Ich weiß, es klingt seltsam, aber dies ist eure ältere Schwester Daenyra." erklärte Rhaenyra mit angespannter Stimme. Daenyra merkte, wie die drei braunhaarigen Jungen sie musterten. "Das sind Jacaerys, Lucerys und Gottfried," erklärte Rhaenyra stolz und mit einem breitem Lächeln auf den Lippen. Daenyra sah die Liebe in den Augen ihrer Mutter, als diese ihre Brüder ansah. "Wir sollten sofort nach Königsmund fahren und den König bitten, Daenyra als unsere Tochter anzuerkennen." Daemon wirkte hoch erfreut von seiner Idee und stellte sich neben seine neu gewonnene Tochter und legte seinen linken Arm um ihre Schultern. Daenyra konnte seine Zuneigung spüren, sein Lächeln wirkte so ehrlich und herzerwärmend. Sie hatte sich immer einen Vater gewünscht, der sie zu schätzen wusste und liebte. "Daemon," seufzte Rhaenyra leise und betrachtete Daemon und Daenyra lange. Daenyra sah ihrer Mutter ins Gesicht. Ein merkwürdiges Gefühl überkam Daenyra, denn ihre Mutter machte nicht den Eindruck, als würde sie sich riesig freuen, sie wiederzusehen. Daemon dagegen wirkte wie aufgekratzt und fröhlich. "Jacaerys, gib den Dienern Bescheid, dass sie alles vorbereiten sollen für die Reise nach Königsmund." Der ältere der drei Burschen nickte seiner Mutter zu und warf Daenyra noch einen abwertenden Blick zu, bevor er hinter den Toren von Drachenstein verschwand.

Augenblicklich kochte Wut in Daenyra auf. Sie erinnerte sich an all die gemeinen Sprüche und Entblößungen ihrer Brüder aus Braavos, sollte dies ein Scherz des Schicksals sein, dass sie nun erneut drei Brüder hatte, welche offensichtlich nicht mit dieser neuen Situation zufrieden waren und sie vielleicht sogar hassten?

Leise senkte sie den Blick und betrachtete den Boden, als ihr Vater sie von der Seite anstubste und aufmunternd anlächelte. "Na komm, Kleines. Ich zeige dir dein Zuhause." Daemon nahm ihre Hand und führte sie an Rhaenyra und den zwei Jungs vorbei, tief ins Innere von Drachenstein. Nachdenklich sah Rhaenyra ihrem Gemahl und ihrer Tochter hinterher. Ein riesiges Gefühl von Anspannung und Besorgnis baute sich in ihr auf.


Die Kinder der SchattenWhere stories live. Discover now