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Tastaturtippen.
Mausklicken.
Papiere durchblättern.
Daten überprüfen.
Anruf.
Mitschreiben.
Terminen zu- und absagen.

Seit mehreren Tagen arbeitete Mycroft schon von zuhause aus. Er verließ das Arbeitszimmer nur, wenn es nötig war, oder er Sport machte. Der kalter Tee vom Morgen und sein unberührtes Mittagessen standen verloren auf seinem Schreibtisch herum.
Er schrieb unzählige E-Mails über Dinge, bei denen man seinen Rat brauchte, ließ sich Daten und Dateien zuschicken zu allen möglichen Themen und Fachbereichen. Mycroft arbeitete über 14 Stunden am Tag. An das Verteilen der Aufgaben war nicht zu denken. Es war besser, wenn er es selbst tat.

Sein Handy klingelte. Eine neue Nachricht. Ein kurzer Blick reichte, um zu wissen, dass er es ignorieren konnte. Ignorieren musste. Keine Ablenkung.

Mycrofts Augen wanderten wieder auf seinen Desktop, an dem er die Datenbanken von Londons Gefängnissen abglich.

Daten einsehen.
Korrigieren.
Anruf.
Missverständnis klären.
Auflegen.
Weiter.

Der graue wolkenbehangene Himmel schenkte nur wenig Licht in seinem Arbeitszimmer. Zur Mittagszeit hatte Mycroft kaum welches gebraucht und auch jetzt schien er es nicht für wichtig genug zu erachten, um dafür aufzustehen. Die einzige Lichtquelle, neben seinem Computer, war die kleine Schreibtischlampe links von ihm.

Dokumente anfragen.
Ausgaben vergleichen.
Einnahmen bei Möglichkeiten erhöhen.

Am nächsten Tag war es gleich. Mycroft beachtete das Wetter nicht und trank nur etwas Tee. Er aß zwar sein Essen, machte danach aber direkt Sport, um daraufhin direkt wieder weiterzuarbeiten.
Diesmal bekam er zwei Nachrichten von der Person, die er ignorieren musste. Er bekam täglich mindestens eine, manchmal rief er sogar an. Es war schwierig, aber die Arbeit war ein guter Motivator.

„Sir, Ihr Tee", hörte Mycroft seine Hausfrau Vera. Sie war die Einzige, die ihn überhaupt zu Gesicht bekam. Sie hatte hier schon immer für Ordnung gesorgt. Mehr wusste sie nicht von ihm und mehr hatte sie auch nie zu interessieren, dafür hatte Mycroft gesorgt.

Er nickte nur, sie stellte die neue Tasse hin und nahm die alte mit.

Leise seufzend schloss sie die Tür. Zu sehen, wie Mr. Holmes alles und jeden von sich abwies, sich in die Arbeit stürzte und das Haus nicht mehr verließ, bedrückte sie.

Sie hatte nicht gedacht, dass das überhaupt möglich war. Immerhin hatte er doch ein so weitreichendes Einflussspektrum und hatte mit vielen Leuten zu tun.

Vera kannte Mr. Holmes, seit er mit 22 Jahren dieses Haus gekauft und sie angestellt hatte. Neben ihr gab es immer mal wieder Mitarbeiter, aber sie war diejenige, die immer geblieben ist. Sie mochte ihn und hütete das Haus gerne, aber in all ihren Jahren bei Mr. Holmes hatte sie noch nie ein solches Verhalten bei ihm erlebt.

Seit er nun von zuhause aus arbeitete, konnte sie ihre jahrelange Routine nicht mehr ausführen, sie traute sich kaum noch, vor und in seinem Arbeitszimmer zu saugen.
Immer wenn sie das vorhatte, sah sie Richtung Tür. Vera wollte ihn nicht stören, wenn sie sauber machte und beeilte sich im Erdgeschoss nun deswegen besonders.

Kein einziger Sonnenstrahl erhellte dieses Haus, jede Wärme war ausgesperrt, so wie Mr. Holmes ihr befohlen hatte, niemanden hereinzulassen.

Er war zwar nun immer da, doch die Stille in diesem Haus war noch nie so laut gewesen, dachte sie.

Am Abend klopfte Vera nochmal und betrat das Arbeitszimmer. Er ignorierte sie sowieso, deswegen nahm sie sich das heraus. Sie stellte ihm sein heutiges Abendessen und eine neue Tasse Tee auf den Schreibtisch.

„Mr. Holmes, Sie sollten für heute aufhören. Sie arbeiten schon wieder seit 13 Stunden."

Wie erwartet bekam sie keine Antwort. Die einzigen Geräusche, die dieses Zimmer einnahmen, waren seine Tastatur, die Maus, die Belüftung seines Computers und das leise kontinuierliche Atmen von Mr. Holmes.

„Wie geht es Ihnen eigentlich?"

Mausklicken.

„Haben Sie mal ihren Bruder angerufen?"

Papierrascheln. Tastatur. Vera versuchte es noch einmal: „Wie hieß noch gleich dieser freundliche Mann, den Sie letzte Woche eingeladen haben?"

Diesmal hörten die Geräusche auf, sogar Mr. Holmes' Atem... Er stoppte in seinen Bewegungen, aber nur einen Augenblick. Es war wie ein kleiner Stromschlag. Nicht unangenehm oder schmerzhaft, sondern einfach präsent.

„Greg", antwortete er leise und sah wieder auf seinen Dokumentenstapel.

„Ja, genau. Sie hatten so glücklich mit ihm ausgesehen. Das war wirklich ein schöner Tag."

Mr. Holmes seufzte und sagte daraufhin nichts mehr. Er hatte es zugelassen an ihn zu denken. Seinen Namen nicht nur zu denken, sondern auch auszusprechen. Sein Blick zog ihn auf sein umgedrehtes Handy, doch er zwang sich weiterhin auf seinen Bildschirm zu sehen.

Keine Ablenkung...

Vera sah ihn noch eine Weile an, bevor sie den Raum wieder verließ. Das konnte sie für heute nicht länger ansehen.

Um 1 Uhr morgens, nach 17 Stunden Arbeit, lag Mycroft im Bett und musste sich erneut an die Stille um ihn herum gewöhnen. Die Belüftung seines Computers rauschte noch immer in seinem Kopf und es dauerte eine Weile, bis er sie nicht mehr hörte.
Er hatte für heute alles geschafft, wie vorgenommen. Eine Liste von Dingen, die er morgen erledigen musste, war in seinem Kopf verfasst. Nun hatte er keinen Grund mehr, an die Arbeit zu denken. Zufrieden schloss er die Augen. Es ging eben doch allein, dachte er.

„Wäre es nicht schon so kalt, würde ich ja liebend gerne meine Füße ins Wasser tauchen."

Greg schob sich wieder in seinen Kopf. Der Tag, an dem sie zusammen im Richmond Park gewesen sind. Ein sonniger schöner Tag... Mit einem Mann, der ihn so angestrahlt hatte und glücklich gewesen war.
Mycroft drehte sich auf die Seite. Immer, wenn er mit seiner Arbeit fertig war, schoben sich Bilder von ihm in seinen Kopf. Sie machten es ihm immer schwerer und schwerer, Greg auf Distanz zu halten. Aber es war besser so. Besser für ihn und besser für alle.

„Äh... Sind wir da jetzt eigentlich... per du?"

Mycroft warf sich auf die andere Seite. Er wollte nicht daran denken. Er wollte sich nicht daran erinnern, wie Greg ihn etwas so Unüberlegtes gefragt hatte, nachdem sie ihre Beherrschung verloren hatten. Das durfte nicht wieder passieren...

„Du warst... Das war einfach... Wow..."

Greg, verschwinde aus meinem Kopf!

„Ich werde nicht gehen... Ich bin da, okay...?"

Mycroft seufzte schwer und öffnete seine Augen, um nicht sehen zu müssen, wie Greg ihn nach der Explosion beim London Eye getröstet hatte.
Heute würde es wohl wieder besonders schwierig werden, einzuschlafen.

Nicht so stark - Mystrade FFWhere stories live. Discover now