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Mycroft sah Lestrade an, mit den Gedanken noch bei Sherlock. Er sah ihn als zehnjährigen Jungen vor sich, den armen kleinen Lockenkopf, den er sich zu beschützen geschworen hatte. Wie er lachte, oder sich über die Arbeit der Polizei beschwerte... Er konnte einfach nicht anders, als in diesem Moment zu lächeln...

„Nein... Nein, das wollen wir nicht", ließ den Bruder nun aus seinen Tagträumen erwachen.

Nun erkannte er den veränderten Gesichtsausdruck des Inspektors. Er wirkte beeindruckt und nachdenklich, fast traurig. Seine Erzählung schien ihn wohl mitgenommen zu haben. Mycroft wollte es dabei belassen. Er wollte nicht weiter erläutern, wie viel komplizierter die ganze Angelegenheit wirklich war und wie viel er davon selbst zu verantworten hatte.
Sherlock meinte gestern zu ihren Eltern, Mycroft habe sein Bestes gegeben, woraufhin seine Mutter sein Bestes als „sehr beschränkt" bezeichnete... Hach, wie er Familientreffen doch hasste...

Wieder sagte eine Weile lang keiner etwas. Mycroft ließ Lestrade die Zeit, die Geschichte zu verarbeiten und Greg gab seinem Gegenüber ebenfalls Ruhe. Nur versuchte er gleichzeitig diesem Blick und das damit aufkommende, so überwältigende Gefühl in Schach zu halten.

Er hatte Mycroft in gewisser Weise falsch eingeschätzt. Sherlock sagte ihm, er sei schwächer als er zugeben wollte. Und er hatte recht, sein Ego war riesig. Doch er war so viel stärker, als Greg es erahnen konnte. Er hat die Geschichte dieser Familie gestemmt, musste seinen Bruder regelmäßig aus Schlamassel befreien, hatte deswegen bestimmt viel einzustecken und arbeitete noch so ganz nebenbei in der britischen Regierung UND beim Secret Service. Da gab es bestimmt noch viel mehr Probleme und Katastrophen zu beseitigen als in Mycroft Privatleben. Und so wie er die beiden Holmes-Brüder kannte, wurde Greg nicht mal ansatzweise alles erzählt.

„Sie sind schon bewundernswert, Mycroft."

„Natürlich bin ich das", antwortete dieser stumpf und Greg musste grinsen.

„Nein, im Ernst... Sie tragen so viel auf ihren Schultern, das ist... eben bewundernswert..."

Da war es wieder, dachte Mycroft. Dieser Tonfall, sein Blick, seine ganze Haltung... Lestrade hatte diese ehrliche Ausstrahlung... Das kannte er von niemandem sonst. Jeder in seinem Umfeld trug eine Maske; Politiker und Geschäftspartner (welche den Hauptteil ausmachten), seine Mitarbeiter, ja selbst seine Familie! Seine Eltern und Sherlock... Sie alle trugen Masken. Wer selbst welche aufsetzte, konnte andere eben gut erkennen. Doch bei Lestrade war das anders...

Das in diesem Moment festzustellen, dauerte in Mycrofts Kopf nicht einmal eine Sekunde. Aber er musste einen weiteren Schluck seines Mochas trinken, um sein Lächeln überspielen zu können.

„Sie sind einer der ersten, die so etwas zu mir sagen. Normalerweise lobt man mich höchstens für meine Arbeit", sagte er daraufhin so sachlich wie immer.

„Ach kommen Sie... Sie sind mehr als nur Ihre Arbeit. Zum Beispiel sind Sie ein bemerkenswerter Bruder, haben einen super Klamottenstil und haben Ahnung von tausend verschiedenen Sachen! Jeder Mensch ist mehr als nur ihre Arbeit, das müssten Sie doch mit am besten wissen."

Das war's. Mycroft konnte nicht mehr. Er versuchte es mit aller Macht zu unterlassen, aber seine Mundwinkel kämpften sich erbarmungslos nach oben. Was Lestrade da von sich gab, klang schon fast dämlich. Er drehte sich etwas weg und versuchte sein Lächeln mit seiner abstützenden Hand zu verbergen, doch Greg war nicht blind.

„Aha...", sagte er selbst grinsend und zeigte auf Mycroft, „Sie können ja doch lächeln."

Mycroft schnaubte, doch leugnen konnte er es ja schwer. „Hören Sie auf, das ist doch lächerlich. Ich lächle sehr oft", verteidigte er sich.

„Aber nie so, wie jetzt. Das hier steht Ihnen viel mehr."

Mycroft hob eine Augenbraue.

„So so, tut es das?"

Greg grinste nur weiterhin frech und trank seinen Kaffee aus. Sein Gegenüber sah ihm dabei kurz zu und bemerkte, wie Lestrade diesmal vergaß, sich den Milchbart wegzuwischen. Mycroft beließ es dabei, noch wollte er ihn nicht darauf ansprechen. Mal sehen, wann er es selbst merkte...

„Haben Sie noch Zeit für einen Spaziergang", fragte der Inspektor, „Oder braucht der Secret Service seinen Babysitter?"

Mycroft sah auf die Uhr. Er hatte nicht gedacht, dass die beiden schon 1½ Stunden hier saßen und sich unterhielten.

„Ich muss mich leider entschuldigen. Die Premierministerin bat mich, bis morgen dem Finanzzentrum Ausgabenberichte der Londoner Gefängniseinrichtungen vorzulegen. Die sind zwar so gut wie fertig, aber eben nur fast."

„Oh man, das klingt nach Arbeit. Soll ich Sie nach Hause fahren? Bis zu meinem Auto ist nur eine Viertelstunde von hier."

„Nein, nicht nötig."

Er rief einen Kellner zu sich, um zu bezahlen. Greg wollte schon nach seinem Portemonnaie kramen, doch auch das lehnte Mycroft ab. Der Inspektor seufzte in sich hinein und steckte es wieder weg. Das Restaurant fing an sich zu füllen, da viele der Gäste pünktlich zur Tea-Time erscheinen wollten.

„Gehen wir?"

Greg nickte und stand auf. Mycroft machte es ihm gleich, doch fing er an leicht zu schwanken. Er versuchte die Sterne wegzublinzeln, die sich vor seinen Augen bildeten, aber seine Beine wurden weich und es fiel ihm schwer durchzuatmen. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, vornüberzufallen.

„Mycroft, Vorsicht...!"

Greg war zur Stelle, legte eine Hand auf Mycrofts Arm, die andere auf seine Schulter und steuerte ihn wieder zu dem Sessel, wo er sich wieder hinsetzten sollte. Der Jüngere wollte protestieren, aber genauso wenig wollte er eine noch größere Szene machen als jetzt schon.

„Alles in Ordnung, nur mein Kreislauf", meinte der auf einmal ganz erschöpft klingende Mann, kramte sein Handy heraus und bestellte sich einen Wagen. Greg bat um etwas Wasser für ihn und sah zu, wie Mycroft das Glas mit einem Zug leerte, die Augen schloss und tief seufzte. Wie war das nochmal mit dem Starksein...?

„Sie haben es wohl die letzten Tage echt übertrieben, was?", fragte Greg. Doch Angesprochener antwortete nicht. Es war ruhig zwischen ihnen, bis er durchgeatmet und seine Augen wieder geöffnet hatte.

„Besser?"

Mycroft nickte und wagte einen zweiten Versuch, aufzustehen. Sie gingen nach draußen und wenig später parkte das georderte Auto vor dem „Dukes".

„Übertreiben Sie es nicht noch mehr, in Ordnung?"

„Alles halb so wild."

Jetzt verdrehte Greg die Augen.

„Mycroft, jetzt mal im Ernst. Sie währen mir hier beinahe umgekippt wie ein Klappstuhl. Man muss es doch nicht darauf anlegen. Sie hatten die letzten Tage viel Arbeit und wenig Schlaf, das sieht selbst ein Blinder", belehrte er ihn und hätte bestimmt noch mehr gesagt, wenn Mycroft ihn nicht unterbrechen würde.

„Ja ja, ist schon gut, Mami."

Das brauchte kurz zwei Sekunden. Das hatte er jetzt nicht wirklich gesagt, oder? So einen Kommentar hätte er allerhöchstens Sherlock zugetraut... Aber Mycroft?! Dann schnaubte Greg belustigt und ließ den Größeren in den Wagen einsteigen.

„Man sieht sich", verabschiedete er sich.

„Ja. Auf recht bald", erwiderte Mycroft, musterte Greg schmunzelnd und wischte sich vielsagend über die Oberlippe.

Greg verstand, errötete leicht und tat schnell dasselbe bei sich. Er hatte vergessen, seinen Milchbart wegzuwischen... Mycroft hat ihn doch bestimmt nicht ernst nehmen können, wenn er ihm damit eine Rede über Gesundheit hält! Scheiße, war das peinlich!

Mycroft wurde kurz darauf weggefahren, der Inspektor sah ihm noch hinterher. Den Nachmittag musste er auf jeden Fall sacken lassen...

...Genauso auch Mycroft... Denn er spürte noch immer die Wärme von Gregs Händen an Arm und Schulter...

Nicht so stark - Mystrade FFWhere stories live. Discover now