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Etwas überrascht über die Aufforderung stieg Greg ebenfalls aus und ging mit Mycroft einige Schritte auf Abstand. Der Inspektor beobachtete, dass er aufrechter stand. Das Ausruhen im Wagen schien also etwas geholfen zu haben, erkannte er zufrieden.

„Wie kann ich Ihnen dienen, Mr. Holmes?"

Dieser sah ihn an, analysierend, prüfend.

„Sie kennen meinen Bruder jetzt fast zehn Jahre, richtig?"

Lestrade nickte, schmunzelte darüber, dass er nach all den Strapazen immer noch an Sherlock dachte und sich sorgte. Er wusste, dass der Detektiv seinen Bruder furchtbar nervig finden konnte, was seinen Beschützerinstinkt angeht. Doch er hatte noch heute erst gesehen, dass Sherlock sich auch um Mycroft Sorgen machen kann. Die beiden hatten echt eine interessante Beziehung zueinander, fand Greg.

Naja, wenigstens hatten sie überhaupt eine halbwegs funktionierende Bindung...

Der Inspektor wurde aus den Gedanken gerissen, als er Mycroft sprechen hörte.

„Nun ich schätze, dass man selbst mit so langer Erfahrung mit seiner Gegenwart nur schwer schlau aus ihm wird. Und da ich aufgrund meines Berufes selten zur Stelle bin, würde ich es begrüßen, einen Polizisten vom Scotland Yard an seiner Seite zu wissen, der ihm vertraut."

Er machte kurz eine Pause, fügte dann aber vielsagend hinzu: „Besonders wenn er wieder dazu neigt, seine Langeweile mit anderen Dingen als Kriminalfällen zu kompensieren."

Greg, zog eine Augenbraue hoch brauchte kurz, um Mycroft um die späte Uhrzeit nicht misszuverstehen.

„Sie wollen also, dass ich aufpasse, dass Sherlock keine Drogen nimmt?"

„Richtig."

„Und was ist mit John? Er wohnt doch bei Sherlock, wäre er da nicht die bessere Wahl?", fragte er und unterdrückte ein Gähnen. Greg war fix und fertig und verstand den Sinn des Gesprächs nicht wirklich.

Außerdem, wer weiß, ob Sherlock wieder in seine alten Muster verfällt und dazu neigt, ihn und seine Kollegen aufzuziehen. Dann auch noch Drogen-Babysitter für ihn zu spielen... Das hätte ihm ja gerade noch gefehlt.

„John ist meinem Bruder ein guter Freund und ich schätze das sehr", fing Mycroft an und hätte jetzt bestimmt etwas gesagt, was in der Situation gegen John spricht. Doch da sprang auf einmal eine Frage in Gregs Gedanken auf, so plötzlich, dass er gar nicht denken konnte, bevor er sie schon aussprach: „Haben Sie eigentlich einen guten Freund, der Sie unterstützt?"

Diese Frage ließ etwas in Mycroft stoppen.

Er hatte bewusst keine engeren Freunde. Er hatte sich bewusst gegen genau so etwas entschieden, um keine Probleme zu bekommen. Von seinem Bruder einmal abgesehen, doch das reichte ihm an Personen, um die er sich kümmern musste. Sherlock war schon genug für Mycroft, mehr als genug Sorgen.

Er kannte seinen Standpunkt und war ihm auch immer treu geblieben, doch plötzlich stellte der Inspektor diese Frage... Es erinnerte ihn an das Gespräch mit seinem Bruder, der einmal andeutete, Mycroft sei einsam...

„Ich habe so etwas wie ‚Freunde' noch nie für besonders sinnvoll gehalten", antwortete er nach einem kurzen Moment der Stille und verdrängte diesen so merkwürdigen Widerspruch in sich.

Lestrade musterte Mycroft. Eigentlich dachte er, er würde noch etwas sagen, doch da kam nichts mehr. Er schaute zum Wagen, wo Donovan mit ihren Fingern ungeduldig auf ihr Handy einhämmerte. Mycroft folgte seinem Blick.

„Ich denke, wir sollten es für heute dabei belassen. Ihre Partnerin schreibt ihrem Liebhaber, dass es später wird, also sollten wir sie nicht zu lange warten lassen, oder?"

Greg fragte gar nicht erst, wie er das schon wieder wissen konnte.

„Wir werden schon dafür sorgen, dass Sherlock nicht in der Gosse landet", verabschiedete er sich mit einem schnellen Händedruck von Mycroft und setzte sich wieder in den Wagen. Er seufzte schwer und rieb sich die Schläfen.

„Was war denn jetzt noch so wichtig?", fragte Sally.

Greg wollte antworten, aber... ja was nur? Dass er jetzt eine Stufe höher Babysitter für Sherlock spielen soll und Mycroft keine Freunde hatte?

„Irgendwas mit Sherlock, ich konnte nicht mehr richtig zuhören", wimmelte er die Frage also ab.

Nun im Haus wusch sich Mycroft, putzte sich endlich den sauren Geschmack seines Erbrochenen und des Kaffees von den Zähnen und zog sich sein Nachthemd an. Aber trotz aller Erschöpfung war nicht an Schlaf zu denken.

Mit einem Glas Brandy saß er in einer seiner großen Sessel und versuchte, sich von diesem Tag zu erholen. Es war keiner da, also konnte er seine Glieder schlaff hängen lassen und den Kopf in den Nacken legen. Der erste Schluck brannte unangenehm in seiner Kehle, breitete dann aber die gewünschte Wärme in seinem Körper aus.

Etwas entspannter seufzte er. Die anbahnende Müdigkeit ließ seine Augen wieder zufallen, doch riss er sie sofort wieder auf, als er vor sich Eurus und neben ihr einen toten Sherlock sah. Er war unmittelbar im Halbschlaf und Albträume schienen sich anzubahnen. Mycrofts Hand schloss sich fester um das Glas und nahm einen zweiten Schluck. Er dachte nach, ließ alles Revue passieren, wollte sich klar machen, dass seine Schwester zumindest bald keine Gefahr mehr war...

Einsamkeit ist keine gute Sache, dachte Mycroft, doch kein anderer Mensch hat gleichzeitig die Genialität und die ausgeprägte Psychose, um zusätzlich so grausam wie seine Schwester zu sein.

Die ganze Sache war noch nicht vorbei. Seine Eltern würden erfahren, dass sie noch lebt. Mycroft würde sich erklären müssen, immerhin hatte er Eurus für tot erklärt, um ihnen die grausamere Wahrheit zu ersparen. Des Weiteren wird er sich darum kümmern müssen, dass sie wieder in Gewahrsam kam. Sherrinford wird auch wieder neu ausgerüstet und gereinigt werden. Immerhin hatte seine Schwester lange die Kontrolle darüber.

Und er wird beobachten müssen, wie Sherlock das alles verarbeitet. Immerhin hat er genauso unter immensem Druck Entscheidungen treffen und handeln müssen.

So viele Aufgaben...Tja... Weder Fürsorge noch Einsamkeit waren von Vorteil, nicht wahr...?

Das Nachdenken half und Mycroft schaffte es, wenigstens für ein paar Stunden Schlaf zu finden. Das letzte, woran er dachte, war die Frage des Inspektors, doch nun gewann endlich seine Müdigkeit und erstickte alles, was die Frage in ihm auslöste, im Keim...

Nicht so stark - Mystrade FFWhere stories live. Discover now