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Mycroft saß zuhause in seinem Sessel. Es war ruhig, bis auf das Feuer im Kamin, welches für ihn angemacht wurde. In der linken Hand hielt er den Zettel mit Lestrades Nummer, in der anderen sein Handy. Das Feuer wärmte seine linke Körperseite, doch die andere war im Schatten.

Sollte er das wirklich tun? Immerhin ist es doch nur Greg Lestrade. Er drehte den Zettel mit den Fingern hin und her und betrachtete die Flammen, die sich auf seinem Display spiegelten. Aber sich drücken war keine Option mehr, den Zettel hatte er bereits angenommen, also müsste er ihn wenigstens anschreiben.

„Feigling", hörte er Sherlock in seinem Kopf sagen und er kniff die Augen zusammen. Vor seinem inneren Auge sah er seinen kleinen Bruder ein dummes Gesicht machen. Plötzlich packten bleiche Hände seine Kehle und sein freches Gesicht verzerrte sich. Mycroft riss die Augen sofort wieder auf.

Ging das schon wieder los.
Diese Tagträumereien verfolgten ihn schon den ganzen Tag. Es störte ihn, es lenkte ihn von seiner Arbeit und seinen eigentlichen Gedanken ab. Aber sie kamen fast nur, wenn er allein war, erkannte Mycroft. Wieder sah er auf den Zettel, presste die Lippen zusammen.

Vielleicht müsste er seine These, Freundschaft bringe einen nicht weiter, neu auslegen. Oder gar widerlegen? Zumindest konnte er nach einigen Jahren Beobachtung feststellen, dass John einen guten Einfluss auf seinen kleinen Bruder hatte. Auch wenn sie sich beide bei ihren Ermittlungen gerne mal in Lebensgefahr begeben...

Mycroft beschloss es zu testen. Er wollte herausfinden, ob so etwas nicht vielleicht auch bei ihm funktionieren könnte. Er entsperrte sein Handy und speicherte Lestrades Nummer ein. Dann öffnete er den noch leeren Chatverlauf und überlegte, was er schreiben könnte.

„Guten Abend Greg, ich nehme Ihr Angebot zum Kaffee trinken mit Freuden an."

Mit Freuden war ja nun doch etwas übertrieben, dachte er sich.

„Guten Abend Greg, ich nehme Ihr Angebot zum Kaffee trinken an. Ein Treffen würde mir in zwei Tagen um 15 Uhr zusagen. Ich empfehle den Kaffee im Dukes London Mayfair in der Little St James's Street. Ich warte vor dem Eingang.
-MH"

Zur gleichen Zeit saß Greg auf der Couch. Er war bisher zu faul gewesen sich umzuziehen und sah irgendeine Sendung, um sich beschallen zu lassen. Den ganzen Tag auf der Arbeit war er mit Informationen vom gestrigen Fall beschäftigt gewesen, da war Sherlock tatsächlich mal eine nette Abwechslung gewesen. Ein Wiedersehen mit Mycroft hatte er so schnell jedoch nicht erwartet.

Irgendwie tat er ihm leid... Der große Bruder von Sherlock Holmes zu sein war bestimmt keine leichte Aufgabe, dachte er grinsend. Doch auch bezogen auf Beruf, Charakter und offenbar mangelnden Beziehungen muss es oft schwer für ihn sein.
Was hatte Mycroft eigentlich für einen Charakter? Greg wusste, dass dieser Mann so gut wie nie etwas und jemanden zu nahe an sich heranlässt und niemals zugeben würde, dass es ihm nicht gut geht. Er selbst wurde Zeuge von diesem Verhalten. Auch war ihm Sherlock wichtig, aber was noch? Mal abgesehen von seiner Schwester, was war sonst mit seiner Familie? Die Kindheit wird wohl auch keine normale gewesen sein... Von Sherlock hatte er so etwas nie erfahren - wann denn auch? Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr wollte er über den älteren Bruder wissen...

Sein Handy meldete sich und riss Greg so aus seinen Gedanken. Es war eine ihm unbekannte Nummer, doch als er die Nachricht überflog, wusste er wem sie gehörte. Er las die Nachricht nun genauer und bei der Erwähnung des Dukes London Mayfair...
Ach du scheiße, das ist doch eines der berühmtesten Hotels in ganz London, was buchstäblich hinter dem Buckingham Palace steht!

Ganz erschrocken öffnete Greg seinen Laptop und googlete die Preise für eine Tasse Kaffee. Bis er sich auf der Website des Hotels zurechtfand, vergingen erstmal fünf Minuten, doch dann fand er, was er suchte.
Zwischen drei und sieben Pfund lagen die Preise... Das mochte noch gehen, sagte er sich und schloss erleichtert die Seite. Was für ein Vermögen man da für eine Übernachtung mit Frühstück ausgeben konnte, wollte Greg lieber nicht wissen.

Mycroft hatte ihm zwar die Straße genannt, aber vom Scotland Yard ist das gerade mal eine Viertelstunde Fußweg.

In zwei Tagen war Freitag, da passte ihm auch die Uhrzeit. Also schrieb er seine Antwort:

„Guten Abend, Mycroft. Ja, Ort und Zeit passen mir. Ich freue mich :)"

Es fühlte sich irgendwie seltsam an, mit einem wichtigen Mann der britischen Regierung so normal zu schreiben. Aber Greg freute sich wirklich, immerhin hieß das in gewisser Weise Ablenkung für ihn.
Denn für heute sah er sich nämlich nicht noch einmal die Fotowand an, die er und Miriam Jahre zuvor stolz im Wohnzimmer zusammengestellt hatten...

Mycroft erhielt die Antwort 15 Minuten nachdem er Lestrade angeschrieben hat. In dieser Zeit wurde das Kaminfeuer gelöscht und er ging in sein Schlafzimmer. Er sah auf den Smiley und für einen kurzen Moment drohte er ebenfalls zu lächeln. Er konnte den Inspektor vor sich sehen, wie er genauso breit grinste wie diese Anordnung von Symbolen. Seine Mundwinkel zuckten verräterisch, doch er zwang sich zur Kontrolle. Bevor er das Licht löschte, schrieb er noch einer weiteren Person.

„Gute Nacht, Bruderherz. Übernimm dich nicht.
-MH"

Dann lag Mycroft in seinem Bett und starrte an die Decke. Er war müde, schon seit Tagen eigentlich, doch diverse Ereignisse spürte er leider immer noch in seinen Gliedern.

Er wollte die Augen schließen und schlafen, doch jedes Mal, wenn er kurz davor war, sah er den toten Gefängnisdirektor David Malik vor sich. Oder Sherlock, wie er angegriffen wird und ebenfalls ermordet wird. Immer wieder schreckte er hoch, mit jedem Mal frustrierter. Nach vier Versuchen sah er auf die Uhr... 02:37 Uhr. Er seufzte, da ihm klar wurde, dass er die Müdigkeit wohl so einfach nicht mehr aus dem Tag verbannen konnte. Er wollte aufstehen, in der Hoffnung, Bewegung mache ihn müde, doch damit würde er seinen ganzen Fortschritt ruinieren. Beim fünften Versuch schien es endlich zu funktionieren, da sein Körper den Kampf wachzubleiben nicht weiter austragen wollte.

Nicht so stark - Mystrade FFWhere stories live. Discover now