Und ich will gerade auf gar keinen Fall wie der Feind wirken, auch wenn ich rein technisch gesehen vielleicht genau das bin. Schließlich sind das hier Rudellose und ich gehöre immer noch dem Rudel meiner Familie an, selbst wenn ich mich wann immer es geht so fern wie möglich davon halte. Was so ungefähr seit meiner Pubertät durchgehend bedeutet.

Wie oft ich schon darüber nachgedacht habe, es zu verlassen. Aber so sehr ich das Leben als Werwolf auch verabscheue - es gibt nichts schlimmeres, als ohne Rudel dazustehen. Freiwild ist es, als was man dann gilt. Und wer so völlig auf sich allein gestellt überlebt, schafft dies nur aufgrund von skrupelloser Grausamkeit gegenüber seinen Artgenossen.

Zerbrech' dir jetzt nicht den Kopf über so etwas. Verhalte dich ruhig, befehle ich mir nervös.

"Wieso bist du immer noch in deiner Wolfsgestalt?", ertönt plötzlich die tiefe Stimme des Mannes vor mir. Obwohl sein Ton kalt und distanziert wirkt, hat er eine beruhigende Wirkung auf mich.

War ja klar, dass das die erste Frage ist. Und wie soll ich jetzt antworten ohne sprechen zu können, du Schlaumeier?

Da ich keine bessere Idee habe, wie ich mit ihm kommunizieren kann, traue ich mich endlich, den Kopf zu heben und dem Fragesteller direkt in die Augen zu blicken.

Ich muss die Luft anhalten, um keinen Laut von mir zu geben, als ich ihn das erste Mal sehe.

Das hell leuchtende Grau seiner mich kritisch musternden Augen brennt sich umgehend in meinen Verstand ein und hinterlässt so tiefe Spuren darin, dass ich wirklich daran zweifle, jemals wieder von ihrem wunderschönen Anblick wegzukommen. Doch er scheint genauso gebannt zu sein wie ich, denn auch er macht überhaupt keine Anstalten, den Blick wieder von mir abzuwenden.

Also sitze ich einfach so da und starre ihm für eine Ewigkeit in die Augen. Bis er mich schließlich gnädigerweise aus diesem seltsamen Bann erlöst, indem er sich mit einem leichten Kopfschütteln räuspert. Betretenes Schweigen kehrt ein, als der Mann damit anfängt, den Boden deutlich interessanter zu finden als mich und ich könnte schwören, dass er gerade gedanklich Löcher in eben diesen hineinbohrt.

Da ich sowieso nichts besseres zu tun habe und mein Interesse nun ehrlicherweise geweckt ist, nutze ich die Zeit bis er mich erneut anspricht dazu, ihn unverhohlen zu mustern.

Als Wolf fällt es bestimmt sowieso nicht so auf wenn ich ihn anstarre, oder?

Seine Haare sind pechschwarz und haben die perfekte Länge, um sie sich frustriert zu raufen, wie er es augenscheinlich gerade tut. Da er lediglich mit einer schwarzen kurzen Hose bekleidet ist, lässt sein weiteres Erscheinungsbild auch wirklich keinen Spielraum für Phantasien. Sein Oberkörper ist mindestens so muskulös wie der Rest von ihm und seine Statur ist von Natur aus schon breit gebaut, was das Ganze definitiv zu einer Augenweide gemacht hätte, würde ich mich im Augenblick nicht in der Höhle des Löwen befinden. Ich finde ihn unglaublich attraktiv und es kommt mir beinahe so vor, als hätte ich ihn schon mal gesehen. Als würde sich irgendein versteckter Teil von mir an ihn erinnern. Eine unbeschreibliche Anziehungskraft geht von ihm aus und will mich quasi dazu zwingen, ihn zu berühren, nur um sicher sein zu können, dass er real ist. Gleichzeitig umgibt ihn jedoch eine solch düstere Aura, sodass all meine Alarmglocken schrillen, während eine aufgebrachte Stimme in meinem mentalen Ohr lautstark immer wieder Gefahr! Gefahr! brüllt.

Unerwartet schnellt sein Kopf zurück zu mir und er ergreift erneut das Wort mit dieser angenehmen Stimme, zu deren Klang ich am liebsten jede Nacht einschlafen würde.
"Du schaffst es nicht, nicht wahr? Dich zurückzuverwandeln?"

No shit, Sherlock.

Er nähert sich mir vorsichtig und streckt dabei eine Hand leicht in meine Richtung aus, fast so, als wolle er mich besänftigen.
Bei mir angekommen, hält er mit dieser dann nur wenige Zentimeter über meinem Kopf inne. "Darf ich?"

Bittet er mich gerade etwa ernsthaft darum, mich streicheln zu dürfen?

Da ich ihn nicht erneut verärgern will, senke ich leicht den Kopf, sodass er mit seiner rauen Handfläche darüberfahren kann. In dem Moment, indem er mich berührt, bahnt sich ein angenehmer Schauder einen Weg meinen Rücken entlang bis hin zu meinen Zehenspitzen und alles in mir beginnt, wie wild zu kribbeln. Die Finger, die er mit leichtem Druck in meinem Fell vergräbt, zittern fast unmerklich.

Ist das wieder so ein Wolfsding?, frage ich mich und versuche davon genervt zu sein, obwohl es mir eigentlich sogar ganz gut gefällt, auch wenn ich das natürlich nie zugeben würde. Klappe, Amara, Konzentration!

Das Schnurren, welches mir raus zu rutschen droht, kann ich trotzdem nur noch in letzter Sekunde unterdrücken. Ob er davon etwas mitbekommen hat?

Als er weiter spricht, zucke ich überrascht zusammen, da ich seinen Atem jetzt schon fast spüren kann, so nah wie er mir in diesem Moment ist.

"Ich kann dir helfen, wenn du willst," erwähnt er in einem beiläufigen Ton und zuckt dabei mit den Schultern, als wäre es keine große Sache.

Ist das sein Ernst? Er kann mich hiervon erlösen? Aber warum sollte er? Nur, um mich anschließend leichter töten zu können?

Meine zusammengekniffenen Augen müssen Bände über meine Zweifel sprechen, oder vielleicht realisiert er auch einfach nur meinen ungesund beschleunigten Herzschlag, denn er fügt sofort hinzu: "Du musst keine Angst haben. Ich tue dir nichts. Vertrau' mir einfach."

Leichter gesagt als getan. Aber was habe ich für eine Wahl?

Also seufze ich ergeben und für den Hauch einer Sekunde meine ich sogar, ein ehrliches Lächeln über seine Mundwinkel huschen zu sehen.

War es vielleicht doch ein Fehler, zuzustimmen? Es gibt keinen Gewinn ohne einen Preis.

Doch ich komme gar nicht erst dazu, meine Entscheidung noch einmal zu überdenken, denn er baut sich plötzlich bedrohlich vor mir auf und das weiße in seinen Augen erscheint Sekunden später in einem leuchtenden Blutrot.

"Verwandele dich!", befiehlt er mir mit einer Kraft, die keine Wiederrede duldet.

Ich weiß, dass ich gehorchen muss, denn seine Stimme pulsiert nur so vor Macht und drängt mich dazu, zu tun was er verlangt, auch wenn ich eigentlich nicht mal weiß, wie ich das anstellen soll. Egal was man tut, man hat keine Chance, sich gegen den direkten Befehl eines Alphas zu stellen.

Ein Alpha bei den Rouges. Wieso?, schießt es mir noch verwundert durch den Kopf, bevor ich vom Schmerz übermannt werde und mich mit knackenden Knochen zurück in meine menschliche Gestalt transformiere. Zurück in mich, Amara.

Nachdem es endlich vorbei ist, nach einem Zeitraum, der Sekunden oder Stunden angedauert haben kann, stoße ich erleichtert meinen zuvor angehaltenen Atem aus. Und dann fällt mir zu meinem unsagbarem Entsetzen auf, dass ich jetzt splitterfasernackt bin.

Verdammt sei mein Werwolfs-Dasein!

Amara & Mason ~ Alpha Der RudellosenWhere stories live. Discover now