60. Leonardo Falcini (1)

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Entsetzt lasse ich den Brief sinken. „Niemals", flüstere ich. Die Welt um mich herum kommt mir so weit weg vor. Ich kann gar nicht glauben, dass das, was ich soeben erfahren habe, wahr sein soll.

Wortlos reiche ich den Brief an meinen Vater weiter und reiße Pietro dann die fehlenden Seiten von Marias Tagebuch aus der Hand. Ich muss wissen, ob das, was sie geschrieben hat, stimmt. „Hey", mault er und verschränkt die Arme vor der Brust.

„Wie wäre es denn, wenn du deine Erkenntnisse mit uns allen teilst?", fragt Lucca und sieht mich stirnrunzelnd an. Unverwandt starre ich in sein Gesicht. Warum habe ich es nicht früher erkannt? Die schmale, große Nase und die buschigen Augenbrauen hätten mir doch einen Hinweis geben müssen. Jetzt, da ich Bescheid weiß, ist die Ähnlichkeit beinahe unverkennbar. Er sieht aus wie Giacomo Falcini. In diesem Moment kommt er mir so fremd vor. Ganz anders als der Lucca, den ich kennen gelernt habe und auch anders als der Lucca, der der Anführer der Cinquenti ist.

Mein Vater lässt den Brief sinken. Auch er starrt Lucca an, als würde er ihn zum ersten Mal richtig wahrnehmen. Ich bin mir sicher, er sucht nach genau denselben Ähnlichkeiten in seinem Gesicht wie ich.

Hastig durchblättere ich die fehlenden Seiten von Marias Tagebuch und finde endlich die Hinweise, nach denen ich so lange gesucht habe. Pietro und Lucca sehen mir dabei über die Schulter. Wie gebannt lesen sie mit.

Mittwoch, 16. September 1992

Er ist in Sicherheit. Endlich. Ich habe es geschafft. Leonardo kann niemand mehr etwas anhaben. Ernesto und ich haben ihn gefunden. Ich bin dankbar dafür, nicht allein zu sein, auch wenn Ernesto nicht erfahren darf, wo sich Leonardo gerade befindet und welche Identität er angenommen hat. Zumindest nicht jetzt.

Nachdem wir Hinweise fanden, dass die Cinquenti Leonardo in ein Waisenheim brachten, haben wir uns direkt auf den Weg dorthin gemacht. Ich habe mit einem Sozialarbeiter gesprochen und durfte Leonardo besuchen. Ernesto blieb währenddessen auf unserem Hotel, da wir zu zweit vermutlich mehr Aufmerksamkeit erregt hätten.

Gerade als ich zu meinem Enkel trat, traf ich allerdings auf die Cinquenti. Es waren die Tellonis, die Leonardo bereits in Schottland entführten. Ich trat ihnen in den Weg, bereit mich zu opfern, sollten sie Leonardo etwas antun wollen. Doch Signora Telloni erklärte mir, dass sie bereits in Schottland Leonardo und die Familie Falcini hätten töten sollen. Allerdings konnten sie und ihr Mann dem Baby nichts antun, weshalb sie ihn hierher, in das Waisenheim gebracht hätten. Nun drohte Bernardo allerdings dahinter zu kommen, dass Leonardo noch am Leben war und sie mussten ihn an einen anderen Ort bringen, wo er in Sicherheit war.

Zuerst wollte ich ihnen nicht glauben, doch als ich den Blick sah, den sie auf den friedlich schlafenden Leonardo warfen, konnte so viel Liebe und Fürsorge in ihren regenbogenfarbenen Augen erkennen. Es ist seltsam, ich kann nicht mal sagen, woher ich es weiß. Die Tatsache ist bloß, dass die Tellonis keine Unmenschen sind. Sie könnten niemals einem wehrlosen Baby etwas antun, das weiß ich.

Die Experimente, die mein Exmann mit ihnen durchführte, veränderten nicht nur ihr äußerliches Erscheinungsbild, sondern machten die beiden auch unfruchtbar. Sie können keine eigenen Kinder bekommen und dennoch wollten sie meinen Enkel schützen.

Gemeinsam mit ihnen entwarf ich einen Plan. Wir wollten Leonardo mit einem der anderen Kinder austauschen. Der kleine Junge, den wir auswählten, litt unter einer angeborenen Krankheit, die mit schweren Fehlbildungen der Organe einhergeht, und hatte keine hohe Lebenserwartung. Seine Eltern wollten kein krankes und behindertes Kind, das seinen zweiten Geburtstag vermutlich niemals erleben würde und so landete der Junge schließlich in dem Waisenhaus.

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