30. Das Haus am See (2)

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Ich falle nicht tief, nur ungefähr einen Meter und taumele kurz, bleibe aber auf beiden Beinen stehen. Neben mir höre ich Lucca atmen. Ich brauche ein paar Sekunden, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben.

Der Raum, in dem wir stehen, ist nicht besonders groß. Er hat eine tiefe Decke und eine Waschmaschine, ein Trockner sowie ein Kühlschrank finden hier Platz. In der Mitte des Raumes steht ein Wäscheständer, über den T-Shirts, Hosen sowie Röcke und Unterwäsche gehängt wurden. Wie es aussieht, sind wir in der Waschküche gelandet. Außerdem verrät uns die Kleidung, dass Toscani hier nicht allein ist. Mindestens eine Frau lebt hier auch noch. Im Dunkeln betrachte ich die Kleidungsstücke und frage mich, ob überhaupt und falls ja, welche davon Toscani gehören.

Lucca ist währenddessen schon ein bisschen weiter als ich. Scheinbar hat er nicht viele Skrupel, denn er ist bereits zur Tür des Raumes gelaufen und hat sie geöffnet. Fragend sieht er zu mir hinüber. Ich nicke nur und setze mich dann ebenfalls in Bewegung.

Gemeinsam schleichen wir uns hinaus in den dunklen Kellerflur. Das Licht aus dem Garten reicht nicht bis hierher. Es ist stockfinster. Ich kann nicht mal die Hand vor Augen erkennen. Zum Glück war ich so geistesgegenwärtig, an diesem Morgen eine Taschenlampe einzupacken. Die krame ich nun aus meinem Rucksack hervor.

Im fahlen Lichtkegel erscheint ein staubiger Kellerflur. Überall führen Holztüren in andere Räume. Es riecht muffig, nach Kälte und altem Gemäuer. Unwillkürlich schaudere ich, während wir uns durch den Flur weiter vorpirschen. Wir gehen langsam und darauf bedacht, bloß kein Geräusch zu machen. Am Ende des Ganges führt eine Steintreppe mit abgetretenen Stufen zu einer weiteren Holztür. Bevor wir die hinaufsteigen, dreht sich Lucca zu mir um. „Wenn wir irgendetwas sehen, das uns an die Elemente erinnert, packen wir es ein", sagt er zu mir, „es ist besser, wenn wir alles mitnehmen, das uns weiterhelfen könnte."

„Alles klar", sage ich und knipse die Taschenlampe aus. Blind schleichen wir uns die Stufen hoch. Die Tür, die in den Keller führt, ist nur angelehnt. Lucca öffnet sie einen Spalt breit und späht hindurch. Dann dreht er sich zu mir um und bedeutet mir mit der Hand, ich solle ihm folgen.

Neben ihm schlüpfe ich durch die Tür und stehe auf einmal mitten im Haus. Genau wie im Keller ist der Flur im Erdgeschoss schmal. An den Wänden hängen abstrakte Zeichnungen und Aktfotos von hübschen jungen Frauen.

Zielstrebig geht Lucca weiter. Der erste Raum, den wir betreten, ist ein Lesesaal mit hohen Decken. An den Wänden stehen Regale und vor dem Fenster befindet sich ein riesiger, altmodischer Schreibtisch. In der Mitte des Raumes steht ein Ohrensessel auf einem Perserteppich. Ein bisschen komme ich mir vor wie in einem Museum.

Dieser Raum wirkt nicht, als würde hier jemand leben. Der Schreibtisch ist komplett leer und in dem Licht, das von der Straße aus in das Zimmer fällt, tanzen Staubkörner. Die Titel der Bücher, die hier stehen, kann ich in dem schwachen Licht nicht lesen. Deshalb knipse ich wieder meine Taschenlampe an und trete näher an die Regale. Viele der Titel sind auf Latein. Die Einbände sehen brüchig aus. Fast so, als hätte sie seit Jahren niemand mehr angerührt. Neugierig ziehe ich an einem der alten Schinken. Unter meiner Berührung fällt der Buchrücken ab, segelt zu Boden und sendet dabei eine Staubwolke in die Luft.

Ich weiche zurück, muss aber trotzdem husten. Ich presse meinen Mund gegen meine Ellenbeuge und versuche somit, den Husten zu ersticken. Lucca dreht sich zu mir um. „Pscht!", bedeutet er mir und legt den Zeigefinger warnend an den Mund. Mit tränenden Augen blinzele ich ihn an.

„Ich glaube, hier finden wir nichts", flüstere ich mit belegter Stimme, nachdem der Hustenreiz nachgelassen hat. Daraufhin nickt Lucca nur. Wir schleichen zu einer Tür neben dem Fenster, die ins Nachbarzimmer führt. Vorsichtig öffne ich sie und erkenne, dass sich die Räume wie ein Paradezimmer in alten Schlössern aneinander reihen.

Das Zimmer, das wir nun betreten, könnte nicht konträrer zum Bücherzimmer sein. Das einzige altmodische Möbelstück hier ist eine weiße Kommode, sonst ist alles neu. Überall stapeln sich Umzugskisten. Auf der Tapete an den Wänden sind hellblaue Häschen zu sehen und die Lampen, die ein angenehmes, weiches Licht spenden, haben ebenfalls die Form von Tieren. Unter anderem erkenne ich einen Löwen, eine Giraffe und einen Bär. Der Künstler hat den Tieren einen lachenden Mund und große Augen verliehen, wodurch sie fast schon menschlich wirken. In der Ecke steht ein halb aufgebautes Gitterbettchen, über das eine Decke mit Sonne, Mond und Sternen gelegt wurde. Die Himmelskörper haben ebenfalls freundliche Gesichter und lächeln breit.

Über dem Bett hängt ein Mobile. Ich kann die Formen von Feuer, Erde, Wasser und Luft erkennen, die sich scheinbar umeinander drehen. Bei dem Anblick des Mobiles wird mir warm ums Herz. Sofort fühle ich mich wieder an meine eigene Kindheit erinnert. Ich will näher an das Mobile treten. Auch Lucca ist davon fasziniert. „Wir sollten das auf jeden Fall einpacken", flüstert er, „vielleicht können wir das ja gebrauchen."

Doch noch bevor wir das tun können, hören wir hastige Schritte, die auf das Kinderzimmer zukommen. Ich packe Lucca am Arm und ziehe ihn in den nächsten Raum. Er liegt im Dunkeln. Trotzdem kann ich durch das Licht aus dem Nebenzimmer erkennen, dass es sich hierbei wohl um das Wohnzimmer handelt. In der Mitte steht ein Couchtisch aus Glas. Drumherum sind zwei Sofas aufgestellt, die auf einen großen Flachbildfernseher ausgerichtet sind. An den Wänden lehnen wie in der Bibliothek Regale. Bloß befinden sich hier Videokassetten und DVDs, keine Bücher.

Lucca und ich ducken uns hinter einem der Sofas, während die hastigen Schritte das Nebenzimmer erreicht haben. Von unserer Position aus können wir nicht viel sehen. Allerdings höre ich wie eine Frau laut auf Englisch mit einem amerikanischen Akzent flucht. „So ein Mist! Was für ein Trottel! Warum muss das jetzt passieren?", murmelt sie leise vor sich hin, während sie im Nebenzimmer herum wuselt, „was brauche ich nun alles?" Es klingt, als würde sie wahllos die Umzugskartons öffnen und auspacken. Wer diese Frau wohl ist? Hat sie etwas mit Toscani zu tun? Ist er der Trottel, von dem sie gesprochen hat?

Sie braucht gefühlt eine Ewigkeit, bis sie gefunden hat, wonach sie sucht. „Fuck!", ruft sie schließlich aus,  „so ein Mist. Ich glaube, ich hab das Fenster in der Waschküche offen gelassen." Augenblicklich entfernt sich ihr Fluchen.

Ich spüre, wie Lucca sich neben mir ein bisschen entspannt. Gebückt bedeute ich ihm, weiter zu gehen. Das nächste Zimmer ist das letzte in der Flucht von Räumen. Auch hier brennt Licht. Es ist ebenfalls altmodisch eingerichtet. An einer der Wände steht ein riesiger Schreibtisch, auf dem ein Laptop aufgeklappt ist. Der Bildschirm ist noch an und zeigt die Folien einer PowerPoint-Präsentation. Beim Näherkommen erkenne ich, dass sie zu dem Vortrag gehört, den Toscani an der Universität in Mailand gehalten hat.

Ich sehe mich weiter um. Auf den Regalbrettern, die über dem Schreibtisch angebracht sind, stehen halbverdorrte Pflanzen, die die Blätter hängen lassen. Außerdem gibt es hier eine Menge Bücher über Genetik. Es hat sogar jemand ein Plakat, das eine Doppelhelix zeigt, an die Wand gepinnt. Leider ist es nicht unbedingt das, was wir uns erhofft haben.

Gerade als ich mich enttäuscht abwenden möchte, fällt mir eine Ledertasche ins Auge, die ebenfalls auf dem Schreibtisch steht. Ein bisschen sieht sie aus wie ein Arztkoffer aus dem letzten Jahrhundert. Neugierig schleiche ich näher an sie heran und spähe hinein. In ihrem Innern befinden sich jede Menge Bücher und Zettel, die jemand wahllos dort hinein geworfen haben muss. Vorsichtig ziehe ich einen Brief hervor. Der Umschlag wurde bereits geöffnet. An Ernesto Lombardini, steht in Maria Veccas feiner Handschrift auf dem Couvert.

Mein Herz macht einen Satz. Ernesto Lombardini. Mein Vater. Mein Atem stockt. „Schau mal", flüstere ich und strecke Lucca den Briefumschlag entgegen. Seine Augen huschen über die zittrigen, feinen Buchstaben und weiten sich dabei. „Pack das ein!", weist er mich an, „gibt es noch mehr davon?"

Ich nicke und deute auf die Ledertasche. Gespannt sehe ich ihm zu, wie er nach den Büchern und dem Papier im Inneren greift und sie auf dem Schreibtisch ausbreitet.

„WAS ZUR HÖLLE MACHEN SIE DA?", donnert auf einmal eine laute Stimme hinter uns.

Die ElementeWhere stories live. Discover now