15. Eins

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Der Professor saß auf einem der neongrünen, unförmigen Stühle in der Cafeteria und starrte durch die Glasfront des Gebäudes nach draußen. Keine einzige Wolke zierte den blauen Himmel. Die Sonne schien in hellen Strahlen auf die Erde hinab und tauchte alles in ein klares Licht. In dem Glasgebäude selbst war es deshalb ziemlich warm. So warm, dass der Professor seine Tweed Jacke bereits ausgezogen und über die Stuhllehne gelegt hatte. Man hätte vermuten können, dass dies ein sommerlicher Tag sei, wären da nicht die kahlen Bäume auf dem Universitätsgelände gewesen, die ihre nackten Äste einsam in den kalten Himmel streckten und der Raureif, der die Erde an jenen schattigen Stellen bedeckte, die die Sonne nicht erreichte. Die hellen Strahlen täuschten nur über das hinweg, was draußen tatsächlich vor sich ging.

Der Professor seufzte. Es war nun schon der fünfte Winter und trotzdem schmerzte ihn der Verlust, den er erlitten hatte, noch immer. Die Zeit heilt nun mal nicht alle Wunden. Es gibt Dinge, die uns bis an unser Lebensende verfolgen und die jedes Mal, wenn wir daran denken, höllisch weh tun werden. Irgendwann müssen wir die Schmerzen akzeptieren und lernen, mit ihnen zu leben.

Seine Familie war verschwunden, wie ausradiert an nur einem einzigen Tag. Er war selbst trug die Schuld daran, das wusste er genau. Und trotzdem hatte er damals keinen anderen Weg gesehen, um sie zu schützen. Sogar Maria war keine andere Möglichkeit eingefallen und sie hatte für so vieles Unmögliche eine Lösung gefunden. Der Professor würde zum Beispiel nie vergessen, wie Maria dem kleinen Jungen vor so vielen Jahren das Leben gerettet hatte und ihn seit dem versteckt hielt. Niemand wusste, wo er war und welche Identität der Junge mittlerweile angenommen hatte. Niemand, außer Maria. Nicht mal den Professor, ihren ehemals engsten Vertrauten, hatte sie eingeweiht. Nächtelang hatte er über den Dokumenten gebrütet, die sie ihm hinterlassen hatte und versucht, ihn zu finden, aber letztendlich war es ihm nicht gelungen, auch nur den kleinsten Hinweis zu dem Aufenthaltsort des kleinen Jungen zu erhalten.

Gedankenverloren ließ er seinen Blick über die Stühle in der Cafeteria des Glasgebäudes schweifen, über das altgriechische Phi für Physik, das in die Rückenlehnen der Stühle eingraviert war. Mit der Hand fuhr er über drei erhabene Striche in der Seitenlehne. Drei Striche, das Zeichen für Erde. Jeder dieser modischen Stühle in der Universitätscafeteria trug ein Zeichen der vier Elemente. Die neongrünen drei Striche für das Element Erde, die pinken eine Flamme als Zeichen für Feuer, die weißen drei senkrechte Wellen als Zeichen für Luft und die hellblauen vier senkrechte Wellen als Zeichen für Wasser. Die vier Elemente. Selbst hier, am anderen Ende der Welt schienen sie den Professor zu verfolgen. Er konnte ihnen nicht entkommen, egal wo er auch hinging. Sie waren allgegenwärtig.

So wie die Gedanken an seine Familie. Es verging kein Tag, an dem er nicht bereits an sie dachte, wenn er morgens die Augen aufschlug. Auch im Alltag verlor er sich beinahe stündlich in seinen Grübeleien. Viel zu oft fragte er sich, was wohl aus ihnen geworden war. Wie kam seine Frau zurecht, so ganz allein ohne ihn? Was war mit seinen Töchtern?

Mittlerweile mussten sie zehn und sieben Jahre alt sein, gingen also beide schon zur Schule. Die Ältere würde bald die weiterführende Schule besuchen. Sie würde noch älter werden und zu einer jungen Frau heranwachsen, ohne dass er ihr dabei zusehen konnte. Er würde ihr nie Bruchrechnen beibringen und dann das breite Lächeln auf ihrem Gesicht sehen, wenn sie feststellte, dass es doch ganz einfach war. Niemals würde er sie auf Sportwettkämpfen anfeuern und mit stolzen Tränen in den Augen bei der Siegerehrung sagen können: „Das ist meine Tochter!" Er würde ihr auch niemals beibringen, wie man Auto fuhr, die Kupplung langsam kommen ließ, um Gas zugeben. Er würde nie am Tisch sitzen, wenn sie ihren ersten Freund mit nach Hause brachte, um zu prüfen, ob es ihm wirklich ernst mit ihr war und er würde sie nicht trösten können, wenn die Beziehung dann zerbrach. Und eines Tages würde sie vielleicht selbst eine Familie haben, ohne dass er die Gelegenheit hatte, seine Enkelkinder kennen zu lernen.

Bei dem Gedanken stieg ein dicker Kloß im Hals des Professors auf. So fühlte es sich also an, sein Leben für das seiner Liebsten aufzugeben. Es war grausam und er hasste jede Sekunde davon. Manchmal wünschte er sich, er könnte einfach aufhören zu existieren, dann müsste er wenigstens diese unerträglichen Schmerzen nicht mehr fühlen. Aber noch immer hoffte er, dass irgendwann endlich der Tag käme, an dem das fünfte Element besiegt wurde, an dem er wieder bei seiner Familie sein konnte.

„Entschuldigung, ist hier noch frei?", fragte plötzlich eine zarte Frauenstimme. Erschrocken zuckte der Professor zusammen und wandte sich der jungen Frau zu, die neben ihm stand und auf einen der freien Stühle an seinem Tisch deutete. In der Cafeteria waren massenweise unbesetzte Tische. Sie hätte sich also ohne Probleme auch an einen von diesen setzten können, aber scheinbar war ihr nach Gesellschaft. Der Professor zuckte unwillkürlich mit den Schultern, während er die junge Frau musterte. Sie war hübsch gekleidet und trug das Haar zu einem lockeren Knoten im Nacken. Er erkannte sie als eine der Erstsemesterstudentinnen.

Früher hätte sein Herz bei ihrem Anblick schneller geschlagen. Er hatte schon immer eine Schwäche für junge, hübsche Frauen gehabt. Sein Charme und das Talent zu flirten halfen ihm des Öfteren, das Interesse dieser Frauen auf sich zu ziehen. Allerdings hatte er, ganz im Gegenteil zu dem, was oft hinter seinem Rücken geflüstert wurde, niemals mit einer dieser jungen Frauen eine Affäre angefangen. Er hatte es immer bei kecken Sprüchen und Komplimenten belassen. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, wollte er auch nichts mit einem dieser jungen Dinger anfangen. Seine Frau war die Einzige gewesen, die er je geliebt hatte. Nun war sie fort und er wollte nicht mal wissen, wie es sich anfühlte, jemals wieder zu lieben, weil er wusste, dass es dann anders sein würde.

„Sie sehen traurig aus", stellte die Studentin fest. Der Professor erwiderte nichts darauf. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Traurig. Das traf seine Gefühlslage nicht mal annähernd. Bis auf die Knochen verzweifelt, im Innersten zerrissen, unruhig, gehetzt, das beschrieb viel eher, was in ihm vorging. Aber das brauchte die Studentin ja nicht zu wissen und er hatte wenig Lust, sich mit ihr darüber zu unterhalten.

„Vermissen Sie die Heimat? Sie kommen aus Italien, richtig?", fuhr sie fort, als machte es ihr gar nichts aus, dass der Professor ihr nicht antwortete.

„Aus der Schweiz", beharrte der Professor, „dem italienischen Teil der Schweiz."

„Oh... ich dachte wegen ihres Akzentes...", begann die Studentin und errötete leicht.

„Ja, das denken viele, aber dem ist nicht so", sagte der Professor in strengem Ton. Er wusste, dass er hart und unhöflich klang, aber in diesem Moment war ihm das alles einfach nur egal. Wie so vieles. Er fragte sich, und das nicht zum ersten Mal, wie ein Mensch nur leben konnte, wenn ihm alles egal war. Wie lange würde er diesen Zustand noch aushalten, bevor er endgültig an seiner Trauer und sich selbst zerbrach?

„Bitte entschuldigen Sie mich, meine Pause ist nun vorbei", sagte der Professor. Er griff nach seiner Tweed Jacke, legte sie über seine Schultern, stand auf und ging. Die Studentin ließ er allein an dem Tisch im fahlen Sonnenlicht des Winters zurück.

Die ElementeWhere stories live. Discover now