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Elena

Seit langer Zeit habe ich das Gefühl, endlich loslassen zu können. Während ich mit ihm spreche, fühle ich mich entspannt und ruhig. Ich vergesse meine Probleme und sorgen für meinen Moment, genieße das hier und jetzt. Den Abend.
Vor dem Restaurant zupfe ich sanft an Miros Arm. Damit will ich ihn unter dem Schirm hervor in den Regen ziehen. Es rieselt gleichmäßig vom Himmel, während wir im Trockenen stehen. Doch der Regen ist warm und sanft auf meiner Hand, die ich unter den freien Himmel gestreckt habe. »Lass uns ein Stück gehen«, schlage ich vor. Miro hebt unter dem Schirm skeptisch die Augenbrauen. Die drei Männer um uns sind mucksmäuschenstill.
»Du bist verrückt, weißt du das?«
Ich nicke lachend. Die spontane Idee brennt sich immer fester in meine Gedanken. Ob es an ihm liegt? Oder dem starken russischen Alkohol? Vielleicht auch nur an meinen Gedanken.
Er dreht sich zu dem Chauffeur zurück, schüttelt den Kopf amüsiert. »Sammle uns an der Kreuzung ein, du weißt schon wo«, ruft er ihm zu. Er tritt aus dem Schatten des Schirmes, ich folge ihm in den warmen Sommerregen. Er lenkt mich den Gehweg entlang, fort vom Geschehen. Zufrieden hake ich mich bei ihm unter, Blicke nach oben in den trüben Nachthimmel. Die Sterne sieht man wegen der vielen Lichter nicht.
»Wir werden pitschnass, das ist dir bewusst, oder?«, vergewissert meine Begleitung sich bei mir. Ich verstärke den Griff um seinen Arm. »Natürlich. Aber es ist Sommer und noch gute zwanzig Grad draußen«, merke ich an. Miro nickt geschlagen und lässt sich von mir um die nächste Hausecke ziehen. Der Regen rieselt auf uns nur so hinab, durchweicht meine Haare bereits. Sein Jackett färbt sich noch dunkler durch das Wasser, er muss die Haare immer wieder zurückstreichen, damit sie ihm nicht die Sicht versperren. Wir schlendern den breiten Gehweg entlang, unter dem Licht der Laternen, beim gedämpften Straßenverkehr und dem Rauschen des Regens. Es entspannt mich. Euphorie strömt durch meine Glieder. Schon lange habe ich mich nicht mehr so lebendig gefühlt, wie in diesem Moment. Wie mit ihm und Lynn. Wie in dieser Stadt.
»Lass uns durch den Park laufen, das geht schneller«, schlägt Miro vor. Zustimmend lasse ich mich von ihm Richtung Park führen. Wir überqueren die sattgrüne Wiese, bis die Stadt hinter den Bäumen verschwindet. Plötzlich fühle ich mich wie in der Natur, ohne den Lärm der Fahrzeuge oder nervigen Lampen der Straßen. Ohne das rege treiben und den trüben Himmel.
»Das alles erinnert mich an den Hyde Park.«
Ich halte inne und schließe die Augen, mitten auf der weiten Wiese. Das Gesicht gen Himmel gerichtet. Ich lasse seinen Arm los, atme tief durch. Frische Nachtluft füllt meine Lungen, kleine warme Regentropfen rennen kribbelnd über meine Haut.
»Oh ja...«, wispere ich gedankenverloren, »sowas von Hyde Park.«

Langsam schlage ich die Augen wieder auf, unsere Blicke treffen sich sofort. Seine Augen ruhen auf mir, beobachten mich genau. Seine Hände verfangen sich im Stoff des Rocks, wandern nach oben zu meiner Taille.
»Du bist verrückt Elena. Auf eine gute Weise«, haucht er mir entgegen. Ich lache leise. Über seinem Kopf die Sterne. Seine Haare tropfen mir auf die Stirn, während der Regen uns durchnässt. Ich wage einen Schritt, auf ihn zuzugehen und die Lücke zwischen uns zu schließen. Langsam wandern seine Hände über den nassen Stoff bis an mein Rückgrat, verweilen dort schließlich.
»Ist es auch in Ordnung das ich zu euch zum Essen komme? Deine Mom hat mich ziemlich überrascht«, murmle ich fragend. Es kommt mir gerade in den Sinn. Er nickt stumm, atmet aus. »Natürlich ist es in Ordnung für mich. Außerdem hätte meine Mutter ein „nein" nicht akzeptiert. Sie findet dich großartig«, erklärt er. Lächelnd lege ich meine Hände an seinen Schultern ab, lasse sie über den durchweichten Stoff zu seinem Hals wandern.
»Ich mag deine Familie«, seufze ich. Miros Stirn legt sich langsam in Falten.
»Wieso? Sie sind anstrengend«, beklagt er sich leise. Blinzelnd schaue ich ihn an. »Besser eine Familie als keine«, wispere ich, hebe meine Finger zu seinen Haaren. Im dunklen streiche ich ihm die tropfenden Strähnen von der Stirn.
»Du vermisst Sie erst, wenn du Sie nicht mehr hast...« Meine Stimme ist nur ein leises Hauchen.
»Ich würde alles dafür geben«, füge ich zu meinen Worten hinzu.
»Hast du je versucht deinen Vater ausfindig zu machen?«
»Nein, dafür habe ich zu wenig Informationen über ihn.«
»Aber du würdest gerne, nicht wahr?«
»Natürlich, aber vielleicht will er mich ja auch nicht kennenlernen oder etwas mit mir zu tun haben.«
»Einen Versuch ist es Wert, meinst du nicht?«

Seine Worte sind wahr. Ich sollte es versuchen, sobald ich wieder in London bin, auch wenn ich mich davor fürchte. Vor dem, was oder wen ich finden könnte.
»Du hast Recht, danke Mirosl-«
Er hält mir die Hand vor den Mund, hindert mich so am Weitersprechen. Mit großen Augen sehe ich auf. Er grinst. »Sprich ihn nicht aus, Lämmchen«, warnt er mich grinsend. Unter seiner warmen Hand murmle ich ein paar Worte, welche ich selbst nicht verstehe. Der Russe zieht mich mit einem Arm fester gegen seinen Anzug, nimmt sanft die Hand von meinen Lippen, damit er mich küssen kann. Ich gebe mich ihm völlig hin, meine Gedanken verblassen, verpuffen in einem rosa-roten Schleier, der sich wie Zuckerwatte vor meine Gefühle und Gedanken schiebt. Er benebelt meine Sinne wie eine Droge. »Miro...«, nuschle ich gegen seine Lippen, »...hör auf.«
»Ich denke nicht mal dran«, erwidert er sogleich. Sein zweiter Arm schlingt sich um meinen Rücken so wie der andere zuvor, er drückt meinen Kopf gegen seinen, seine Haare verfangen sich in meinen Haaren. Ich keuche auf.
»Okay Stopp«, drücke ich ihn sanft weg. Mit klopfendem Herzen schaue ich auf, schlucke dabei. Der Dunkelhaarige holt tief Luft, fährt sich durch die Haare und lässt mich los. Einen Moment schweigen wir beide, nur der Regen ist zu hören. Aufgewühlt lege ich mir die klitschnassen Haare über die Schultern und warte darauf, dass er etwas sagt. Mein stetig pochendes Herz droht fast aus meiner Brust zu springen.
»Elena...«, beginnt er erregt. Seine Stimme ist rau geworden. »...wir sollten zum Wagen, dann bringe ich dich ins Hotel. Sonst werden wir krank«, erzählt er mir in die Augen schauend.
»Zudem habe ich morgen einiges in der Firma vor.«
Etwas verwundert über seine Worte nicke ich nur. Fast hatte ich vergessen, dass er in der Firma seines Vaters Arbeit. Soweit ich mich erinnern kann, handeln sie mit Immobilien. Er zieht mich am Hals zu sich, drückt seine Lippen gierig auf meine und verschlingt mich fast unter dem lauwarmen Sommerregen. Und noch nie in meinem Leben bin ich einer Person so verfallen wie ihm.

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