Prolog - 08. März 2031

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„Fortschritt ist für unsere Welt unerlässlich." Bei diesen Worten war sie sich der Aufmerksamkeit von hundert Leuten sicher. Für ihren Geschmack lagen viel zu viele Augenpaare auf ihr, die Fremden hingen an ihren Lippen, lauschten den Worten, die nicht ihre waren. Tagelang hatte sie gebangt, war schon ins Schwitzen geraten, wenn sie bloß an den heutigen Tag gedacht hatte.

Niemandem in diesem großen Raum fiel das Zittern ihrer Hände auf. Der Raum war groß und mit lauter Tischen und Stühlen gefüllt. Jeder Sitzplatz war besetzt. Und sie alle waren wegen dem hier, was sie zu sagen hatte. Obwohl alle sie beobachteten, bemerkte niemand, wie sich ihre Finger verkrampften und fest um die kleine runde Holoplatte klammerten. Aufgrund der Kontaktlinsen, die man ihr eingesetzt hatte, war nur sie dazu in der Lage, die Wörter zu sehen, die sich vor ihr wie von Geisterhand in die Luft malten.

„Die Welt dreht sich immer und immer weiter, ohne jemals damit aufzuhören.", sprach sie und hoffte, dass sie all die Stärke in ihre Stimme legte, die sie noch aufbringen konnte. Auf gar keinen Fall durfte ihr die Stimme jetzt wegbrechen. Schwäche durfte sie nicht zeigen. Auf gar keinen Fall. Ob die Leute hier ihr zuhörten oder sie gar ernst nahmen, konnte ihr nicht gleichgültiger sein. Niemand hier bedeutete ihr etwas. Sie wollte nichts von diesen reichen, einflussreichen Leuten, die sie auf der Straße nicht einmal eines Blickes gewürdigt hätten.

Clara Rodrigues war ein Niemand. Sie gehörte nicht hier her. Wollte noch nicht einmal hier sein. Aber sie hatte keine Wahl. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Rolle zu spielen. „Und genau wie die Welt, dürfen auch wir nicht stehenbleiben.", fuhr sie mit fester Stimme fort. In dem schwarzen Blazer mit der blütenweißen Bluse fühlte sie sich, als hätte sie sich verkleidet. „Erinnern wir uns an unsere Anfänge." Wie auf Stichwort verwandelte sich die weiße Wand hinter sich in einen gewaltigen Bildschirm. Auf ihm war eine Darstellung von Steinzeitmenschen in einer dunklen Höhle zu sehen, die um ein kleines Feuer saßen. Anstelle von richtiger Kleidung hatten sie ihre Körper in Tierfelle und –häute gehüllt.

„Wo wären wir heute, ohne den Fortschritt?", stellte Clara die Frage in die Runde, die ohnehin niemand beantworten würde. „Aus unserem Leben ist er nicht mehr wegzudenken. Jede einzelne Generation lässt die Welt für ihre Nachfahren verändert zurück und Stück für Stück tragen wir alle dazu bei, unsere Gesellschaft weiterzuentwickeln. Fortschritt bedeutet Leben."

Interessiert und konzentriert lauschten ihr die Reichen und Schönen. Die Einflussreichen und die Relevanten, ohne die das Vorhaben scheitern würde. Jedes ihrer Worte stach ihr tief ins Herz. Doch sie wagte nicht, sich zu krümmen oder gar aufzuhören. Nichts hiervon wollte sie. Und doch war sie hier und versuchte Menschen von einer fremden Sache zu überzeugen. Einer Sache, für die sie selbst keinerlei Leidenschaft hegte. Natürlich empfand auch Clara, dass die Menschen sich immer weiterentwickeln mussten, für ihre Nachkommen mit jeder vergehenden Generation ein Stückchen mehr auf der Erde zurücklassen konnten. Damit das Leben besser und leichter wurde.

Aber hierfür? Hierfür empfand sie nur tiefe Abscheu. Das Vorhaben war menschenverachtend. Und hiervon sollte sie Menschen überzeugen. Sie dachte an ihre eigene Tochter und musste die Tränen zurückdrängen. Daran durfte sie nicht denken.

„Erinnert euch daran, wie Edison 1880 das Licht mithilfe eines Glühfadens aus japanischem Bambus kommerziell und für jeden zugänglich machte, oder die erste bemannte Mondlandung, am 20. Juli 1969. An die stetig wachsenden Erkenntnisse und Neuerungen in der Medizin. So etwas hätten die Menschen um 1500 niemals für möglich gehalten. Aber nun, nach all diesen unzähligen Jahren, sind wir angelangt, wo wir heute sind. Und darum haben wir uns heute versammelt." Während sie ihre Rede hielt, zeigte der gewaltige Bildschirm immer neue Bilder.

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, je näher sie dem entscheidenden Punkt kam. Alles in Clara wiederstrebte, das auszusprechen, was von ihr verlangt wurde. Doch sie wusste ganz genau, dass sie nichts dagegen unternehmen konnte. Selbst, wenn sie sich weigern würde, würde jemand anderes an ihre Stelle treten und es hätte nichts geholfen. Sie tat das hier bloß für ihre Familie. Ach, hätte Clara sich doch bloß niemals mit Dorothea angefreundet! Wäre sie doch bloß nicht auf die kluge, verschlossene Frau hereingefallen. Dann wäre sie nicht hier. Dann wäre ihre Familie jetzt nicht in Gefahr. Erneut kämpfte sie gegen die aufkommenden Tränen. Sie durfte nicht zulassen, dass sie schwach wurde. Sie musste das hier durchziehen. Für ihre süße kleine Tochter und für ihren wunderbaren Ehemann.

Entstehungsgeschichte einer BestieKde žijí příběhy. Začni objevovat