06. Oktober 2059

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Antriebslos lag Kieran auf der Parkbank und blickte zum strahlendblauen Himmel. Keine Wolke war zu sehen. Es war, als wolle Rye ihm zum Trost zumindest diesen schönen Tag schenken, bevor er die Kleinstadt für immer verlassen würde.

Für diese Nacht hatte er sich auf einen kleinen Spielplatz zurückgezogen, dessen Bäume ihm einen Rückzugsort boten. Heute würde er sich wieder zu Mrs. Harris aufmachen. Dann würde er weitersehen. Menschen in seinem Alter machten ihren Schulabschluss oder besuchten bereits eine Universität. Aber da er in seinem Leben noch nie eine Schule von innen gesehen hatte, schied das für ihn wahrscheinlich aus.

Als er sich im Regierungslabor befunden hatte, hatte er zwar Bildung genossen, doch er bezweifelte, dass die ausreichte, um das Wissen auszugleichen, das Menschen sich innerhalb von vielen Jahren angeeignet hatten. Und er hatte ganz sicher nicht vor, das nachzuholen, indem er gemeinsam mit kleinen Kindern eine Klasse besuchte. Außerdem würden die sowieso glauben, er würde sie fressen wollen.

Seufzend setzte er sich auf und sein Blick schweifte über den menschenleeren Spielplatz. Es war Zeit zu gehen. Doch auf einmal hielt er inne. Auf der anderen Seite des Platzes bemerkte er den Jungen von gestern. Als dieser bemerkte, dass Kieran ihn ansah, zuckte er zusammen und suchte schnell hinter einem Baum Deckung.

Unbeeindruckt hob sich seine linke Augenbraue. Ganz offensichtlich war der Junge ein schlechter Spion. Aber das sollte nicht Kierans Problem sein. Ohnehin würde er Rye jetzt verlassen. Und der Junge musste niemals erfahren, dass er eventuell einen älteren Bruder hatte. Zumal er sich sicher war, dass Lisha ihm nichts von ihrem gestrigen Gespräch erzählt hatte, falls man das denn überhaupt so nennen konnte.

Entschieden wandte er sich ab. Wollte den Spielplatz verlassen, als der Junge auf einmal hinter seinem Baum hervorsprang und ihm nacheilte.

„Warte!", rief er. Kieran blieb stehen und sah den Jungen fragend an.

Keuchend blieb er vor ihm stehen. „Wer bist du?", schnaufte er, während er versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

Vermutlich wäre es besser, wenn er schwieg. Am Ende würde er nur Probleme bekommen. Das letzte, was er gerade gebrauchen konnte. Er war nicht so weit gekommen, um sich seine Freiheit durch so etwas vermiesen zu lassen.

Als der Junge bemerkte, dass er keine Antwort erhalten würde, versuchte er es anders. „Ich bin Noah.", stellte er sich vor. „Wegen dir haben sich meine Eltern gestritten. Dabei streiten sie sich schon so oft, wenn sie sich sehen." Er hielt inne und beobachtete Kieran, als erwartete er, dass dieser dazu etwas zu sagen hatte. Hatte er nicht.

„Weißt du, Mama hat Papa erzählt, was du gesagt hast. Und dann ist Papa, nachdem er sich mit Mama gestritten hat, aufgesprungen und losgerannt. Er wollte dich suchen.", erzählte Noah. „Leider habe ich nicht verstanden, was sie beide gesagt haben. Sagst du es mir?"

Fassungslos sah Kieran den Jungen an, der sein Bruder sein musste. Amari hatte nach ihm gesucht? Hatte Amari seinen Worten etwa geglaubt, im Gegensatz zu Lisha, die das für einen fürchterlich gemeinen Scherz hielt?

„Ich habe deiner Mutter gesagt, wer ich bin.", entschloss Kieran zu verraten. Früher oder später würde der Junge zu Hause sowieso mitbekommen, was seine Mutter so aus der Fassung gebracht hatte.

„Und wer bist du?", harkte Noah neugierig nach.

„Mein Name ist Kieran Roth.", offenbarte der Mutant. Mehr sagte er nicht. Stattdessen beobachtete er den Jungen. Hatten dessen Eltern ihm erzählt, dass sie vor ihm bereits einen Sohn gehabt hatten?

Augenblicklich wurden Noahs dunkle Augen groß. „Und du lügst auch ganz sicher nicht?"

„Nein.", versicherte das Chamäleon. Ganz vorsichtig, ganz langsam streckte Noah seine Hand aus und pikte ihn in den Arm. Skeptisch ließ Kieran es zu. Was sollte das denn jetzt?

„So hieß mein Bruder.", sagte Noah leise. „Aber er ist gestorben, bevor ich geboren wurde. Mama und Papa sind da nie drüber weggekommen. Darum streiten sie auch so viel und haben sich scheiden lassen."

Aufgrund seiner Worte musste Kieran plötzlich schlucken. Noch nie zuvor hatte er wirklich darüber nachgedacht, was seine Entführung für seine Eltern bedeutet hatte. Damals war er noch so klein gewesen. Gerade mal zwei Jahre hatte er mit ihnen verbracht. So gesehen, hatten sie kaum Zeit mit ihm verbracht. Dennoch hatte es sein Verschwinden siebzehn Jahre später noch immer Einfluss auf sie.

Beinahe schüchtern zupfte Noah an Kierans Jacke. „Bist du wirklich mein Bruder?"

„Ja.", antwortete der Mutant. Seine Stimme klang rau und belegt. Niemals hatte er geglaubt, dieses Gespräch mit seinem Bruder führen zu müssen. Zumal er noch nicht einmal gewusst hatte, dass er einen Bruder hatte.

„Aber Mama glaubt dir nicht.", sagte Noah betroffen. „Was kann ich tun, damit sie dir glaubt?" Das Chamäleon war überrascht. Bot der Junge ihm etwa seine Hilfe an? Das war das allerletzte, was er erwartet hatte. Ausgerechnet der Junge glaubte ihm sofort. Und auf einmal war Kieran froh, die Stadt nicht schon gestern verlassen zu haben.

„Das kannst du tatsächlich.", meinte er. Auf einmal schöpfte er wieder Hoffnung. Noch hatte er nicht versagt. Er hatte noch immer eine Chance. Schnell griff er in die Innentasche seiner dünnen Jacke und zog die Akte hervor. Seine Akte aus dem Ambrosia Institut. Lange verharrte sein Blick auf ihr. Es fiel ihm schwer, sie aus der Hand zu geben. Sie belegte, wer er gewesen war. Wenn sie verloren ging hätte er das Gefühl, einen Teil seiner Identität zu verlieren. Aber jetzt musste er sich von ihr trennen und das Beste hoffen. Es gefiel ihm überhaupt nicht, die Kontrolle aufzugeben.

„Gib das deinen Eltern.", bat er und reichte Noah die Akte. Seine Finger zitterten kaum merklich. Eifrig nickend nahm Noah die Akte vorsichtig entgegen.

„Versprochen!", sagte er und lächelte dem Mutanten entgegen. Ob er das noch tun würde, sobald er wusste, dass Kieran kein Mensch war? „Wo finde ich dich, wenn ich Mama und Papa das gegeben habe? Wohnst du in einem Hotel?"

„Du findest mich hier.", erwiderte das Chamäleon. 

Entstehungsgeschichte einer BestieWhere stories live. Discover now