23. November 2055

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Es war leicht gewesen, eine große Stadt zu finden. Anders als andere Mutanten fiel Kieran überhaupt nicht auf. Hätte man es nicht besser gewusst, hätte man ihn für einen Menschen halten können. Unbehelligt schritt er die dicht befahrenen Straßen entlang, passierte Menschen, die ihn noch nicht einmal wahrzunehmen schienen.

Allein ihr Anblick ließ den altbewehrten Hass wieder hochkochen. Sie waren so vollkommen anders als er. Und darauf bildeten sie sich auch noch stolz etwas ein, während sie auf die Mutanten spuckten.

Aber in seinem Leben hatte es einen Moment gegeben, indem er sich nicht von seinem Hass hatte leiten lassen. Und in ebendiesem Moment hatte er – oder besser: hatte Neununddreißig – begriffen, dass Menschen stolz auf ihre Menschlichkeit waren. Dabei hing Menschlichkeit mit Gefühlen zusammen. Mit der Fähigkeit, zu empfinden. Sie begriffen nicht, dass auch Mutanten darüber verfügten. Und das widerte Kieran bloß noch mehr an.

Menschen waren verblendete Wesen. Sie glaubten, immer Recht zu haben und bemühten sich gar nicht erst, etwas zu verstehen, das nicht wie sie war.

Ein finsteres Grinsen legte sich auf sein Gesicht. In gewisser Weise war auch er menschlich. Eines Tages würde das der Untergang der Menschheit sein. Da war er sich sicher. Und er hatte vor, für diesen Untergang mit verantwortlich zu sein.

Seine innere Bestie und seine Menschlichkeit schienen ständig gegeneinander anzukämpfen. Doch in dieser Sache ließen sie zu, miteinander zu verschmelzen. Ihn machte beides aus.

London war die wohl größte Stadt, die Kieran jemals gesehen hatte. Und genau darum war er hier. Große Stadt, viele Menschen. Alles, was er verabscheute.

Die Stadt war laut und überfüllt. Die Menschen ungeduldig. An jeder Ecke ertönte das Hupen der Autos. Gespräche fusionierten zu unverständlichem Hintergrundrauschen.

Wie sollte Kieran aus diesem Meer aus Menschen diejenigen finden, bei denen er untertauchen würde? Am liebsten wäre es ihm ja, wenn er der einzige Mutant bei ihnen sein würde. Nicht, weil er lieber allein sein wollte. Obwohl er damit kein Problem hätte. Er wollte ganz einfach verhindern, dass sich das mit Flavio wiederholte. Kieran war schuld, dass er seinen Freund verloren hatte. Und das würde ihn niemals mehr loslassen. Da blieb er lieber allein. Außerdem wäre das auch einfacher. Schließlich müsste er sich dann nicht auch noch um jemand anderen kümmern. Komplikationen konnte er nicht gebrauchen.

Bis die Sonne untergegangen war, war Kieran durch die Großstadt gestreift. Schließlich hatte er ein deutlich ruhigeres Viertel Londons erreicht, mit großen Häusern und einem kleinen Waldstück in der Nähe. Innerhalb von Sekunden hatte er sich entschieden.

Hier würde er bleiben. Er musste bloß noch den richtigen Menschen finden, der seine Tarnung aufrechterhalten würde. Am besten wäre ein Einzelgänger, mit wenig sozialen Kontakten. Somit würde er verhindern, dass mehr Menschen als nötig zu Gesicht bekämen.

Die Straße brauchte er gar nicht zu lange beobachten. Schnell hatte er erkannt, dass in dem Haus mit der weißen Fassade und der pflegeleichten Wiese Menschen lebten, die sich selten blicken ließen. Zum einen hatte ihm das der lieblose und einfach Vorgarten in diesem eigentlich wohlhabenden Viertel gesagt, zum anderen war die Bedeutung für den silbernen hohen Zaun, der beinahe an einen Gefängniszaun erinnerte, ausschlaggebend gewesen. Er schloss das ganze Grundstück ein und ließ dieses alles andere als heimelig wirken. Perfekt.

Als er für einen Wimpernschlag lang eine Gestalt im dunklen Fenster erblickte, wusste er, dass dort ein altes Ehepaar lebte. Kieran hatte den Mann gesehen. Einen ernst und grummelig wirkenden Mann, der beinahe verstohlen aus dem Fenster geschaut hatte, als würde er darauf achten wollen, dass alle seinem Grundstück fernblieben. Das sagte Kieran genug über den Charakter des Alten aus. Es war beschlossene Sache. 

Entstehungsgeschichte einer BestieWhere stories live. Discover now