08. November 2055, 05.01 Uhr

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Als er sich sicher war, genügend Abstand zwischen sich und die anderen Mutanten gebracht zu haben, erlaubte er es sich, stehenzubleiben. Umgeben von Grün und abseits jeder menschlichen Nähe widmete Neununddreißig sich seinem Inneren. Aus dem Regierungslabor war er entkommen. Dennoch waren noch nicht alle Ketten gesprengt worden.

Er hatte damit gewartet. Er wusste, dass er das nicht tun durfte, solange er noch nicht in Sicherheit war. Immerhin war es sehr wahrscheinlich, dass die plötzliche Rückkehr seiner Empfindungen ihn außer Gefecht setzen würde. Und in einer Situation wie vorhin wäre es mehr als nur unklug gewesen, sich darauf einzulassen. Zumal er einen klaren Kopf gebraucht hatte.

Aber hier war er allein. Und er ging nicht davon aus, dass man ihn allzu bald finden würde. Also konnte er sich voll und ganz auf sich konzentrieren. Wenn er die Freiheit wollte, dann sollte er sie auch ohne Kompromisse annehmen. Dann sollte er sich vollständig befreien.

Nummer Neununddreißig schloss die Augen. Tauchte ein. Sein Geist war ruhig. Kühle Berechnung. Glasklar. Er musste tiefer. Nur wohin? All seine Gedanken waren ohne jede Emotion. Ohne jede Empfindung. Allein die Logik war zu finden. Aber er wusste, dass das, was er suchte, da war. Damals war er nicht dazu in der Lage gewesen, es vollständig zu zerstören. Vielleicht hatte er sich jedoch auch nur ein Hintertürchen offen gelassen.

Er hatte sich in den hintersten Winkel seines Selbst gesperrt. Und von dort her erklangen die Schreie. Der Wunsch, den er nicht hatte loswerden können. Der Wunsch, der ihn retten würde. Je tiefer er in seinen Geist eintauchte, desto lauter wurde er. Beinahe schon glaubte er, die einzelnen Worte zu verstehen sowie die Schläge auf die Gitterstäbe.

Natürlich wusste er, dass es ein Risiko war. Das letzte Mal, als seine Seele vollständig gewesen war, war sie gewaltsam auseinandergerissen worden. Neununddreißig konnte das Ausmaß ihrer Zerstörung nicht erahnen. Und erst recht konnte er nicht sagen, wie sich die Rückkehr seiner Emotionen auf ihn auswirken würde.

Die Logik in ihm schrie warnend auf. Schickte ein Alarmsignal in Form des schrillen Heulens von Sirenen. Doch der Wunsch erstickte die Logik. Rang sie mit aller Macht nieder, bis sie nur noch leise wimmerte. Neununddreißig war bereit. Aber war Kieran es auch?

Nun war er so nahe dran. Die fordernden Schreie verstummten und wichen Licht. Hell und stark erstrahlte es in all der Dunkelheit. Der Weg zurück zur Menschlichkeit. Kieran hatte die Menschen gehasst. Aber Neununddreißig hatte verstanden, was Menschlichkeit war. Kieran hatte das nicht. Für ihn waren Menschsein und Menschlichkeit ein und dasselbe. Doch das war es nicht.

Sein eigener Wunsch baute auf Menschlichkeit auf. Ein Wunsch, der so stark war, die Bestie in den Hintergrund zu rücken, auch wenn sie wohl niemals ganz verschwinden würde. Aber das würde Kierans Problem sein und nicht das von Neununddreißig.

Jetzt sah er es: Das Gefängnis seiner Seele. Allein kämpfte es gegen die Dunkelheit an. Gegen sein Daseinsrecht. Neununddreißig konzentrierte sich auf seinen Wunsch nach Freiheit. Den Schlüssel, den er verloren glaubte, hatte es niemals gegeben. Er selbst war der Schlüssel. So streckte er seine Hand aus. Und Kieran ergriff sie.

Mit einem Mal zerbarsten die Gitterstäbe, die immer Stand gehalten hatten, in zausende Scherben. Wurden zu Staub.

Kieran und Neununddreißig flossen ineinander über, wurden eins.

Neununddreißig war eingetaucht. Aber Kieran tauchte auf.

Sobald er wieder an die Oberfläche trat, stürzte alles über ihm zusammen. Die Last der Gefühle war niederschmetternd. Wie eine Lawine vergruben sie ihn unter sich, schlugen auf ihn ein, zwangen ihn, gehört zu werden.

Gequält schrie er auf, kauerte sich am Boden zusammen, presste fest die Augen zusammen. Die geballte Kraft seiner verdrängten Gefühle schien ihn zu zerreißen. Es waren so viele. So unglaublich viele. Und jedes einzelne unglaublich stark. Da er sie über zwei Jahre lang nicht mehr gespürt hatte, kamen sie ihm nun so viel intensiver vor.

Der Schmerz und das Leid prügelten ihn nieder, stachen mit Messern auf ihn ein. Wollten ihn brennen sehen. Die Erinnerungen an die Folter überfluteten ihn. Rissen ihn mit sich in ihre Fluten. Drohten, seinen Geist auseinanderzureißen und die einzelnen Teile so zu verteilen, dass er sie nie und nimmer wieder alle einsammeln konnte.

Der Wahnsinn riss und zerrte an seinen Gedanken. Wollte sie sich untertan machen. Das alles war zu viel. Er war vollkommen überfordert. Das würde er niemals aushalten können. Er konnte nicht mehr. Seine Kräfte waren am Ende.

Die Verzweiflung kreischte in seinen Ohren und brachte seine Trommelfälle beinahe zum Bersten. In was für einer Lage befand er sich nur? Wie sollte er der Regierung und seinem ehemaligen Freund nur entkommen? War es die Freiheit wirklich wert, sein Leben für sie zu geben? Er sah keine Lösung.

Die Schuldgefühle schnürten ihm die Kehle zu und trieben die Tränen in seine Augen. Er war schuld. Allein wegen ihm war Flavio jetzt wo er war. Kieran hatte ihm das angetan. Er hatte seinen Freund zerstört. Und beinahe hätte er ihn heute getötet. Einfach so, weil es die klügste Wahl war. Dabei war er selbst dafür verantwortlich, dass es überhaupt so weit hatte kommen müssen.

Vollkommen entkräftet brach er zusammen. Über ihm breitete sich die Dunkelheit aus. Nahm ihn in ihre finsteren Arme, tröstete ihn. Liebkoste ihn mit ihrer Kälte und Bewusstlosigkeit, schickte ihn schlafen.

Entstehungsgeschichte einer BestieWhere stories live. Discover now