22. Juli 2053

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Offizier Preston konnte kaum glauben, was er sah, sobald er wieder in sein Folterzelt zurückkehrte. Seit er diesen selbstgefälligen Mutanten gebrochen hatte, waren die übrigen Mutanten des Regiments 5 in eine seltsame Stille verfallen. Nur noch selten blickten sie auf. Die Stimmung war so bedrückend, dass selbst Preston sich niedergeschlagen fühlte.

Etwas hatte sich verändert, als er den Mutanten, der sich Kieran genannt hatte, zum Schreien gebracht hatte. Und er konnte nicht benennen, was es war. Doch anstatt zufrieden zu sein, war er beunruhigt.

Nachdem das Chamäleon nun seit zweiundzwanzig Tagen gefesselt am Pfahl hing und Preston sich seit fünf Tagen nicht mehr blicken lassen hatte, entschied er, nach dem Mutanten zu sehen. Außerdem brauchten diese Ungeziefer, trotz ihrer unnatürlichen Fähigkeiten, noch immer Nahrung. Es wurde langsam Zeit, der Made zumindest etwas Wasser einzuflößen. Obwohl sie weitaus länger als Menschen ohne auskommen konnte. Zumindest einige von ihnen.

Als er das Folterzelt betrat, war es dunkel. Seine Augen mussten sich zuerst an die Finsternis gewöhnen. Kieran, Mutant Nummer Neununddreißig, hing nach wie vor am Pfahl. Aber alles andere hätte Preston auch gewundert. Doch das war es nicht, was ihn stutzen ließ.

Als der Offizier den jungen Mutanten vor einigen Tagen zurückgelassen hatte, hatte er mehr tot als lebendig gewirkt. Seine Schreie waren schon längst verklungen und schlaff wie eine Puppe hatte er in seinen Ketten gehangen.

Umso überraschter war er nun, als Nummer Neununddreißig ihm genau in die Augen blickte, als er eintrat. Stirnrunzelnd verharrte Preston an Ort und Stelle. Starrte den gefesselten Mutanten vor ihm an. Es war ein absurdes Bild, das sich ihm bot. Beinahe wie ein Heiliger hing das Chamäleon am Pfahl und blickte ihm entgegen. Aber da war keine Sturheit mehr, wie noch ganz am Anfang. Natürlich nicht. Nach all dem, was er dem Mutanten angetan hatte, hätte ihn das gewundert. Nein, es war etwas Anderes.

Das letzte Mal war das Chamäleon gebrochen gewesen. Kaum mehr er selbst. Er hatte sich in den hintersten Winkel seines Selbst zurückgezogen und war trotzdem nicht dazu in der Lage gewesen, den Qualen zu entkommen.

Aber nun? Nun blickte der Mutant ihn einfach nur an. Doch sein Blick war leer. Wirkte beinahe wie der eines Toten. Da war keine Angst, kein Schmerz. Ja, noch nicht einmal Wahnsinn. Nichts. Einfach nur nüchterne Berechnung.

Offizier Preston brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass sich etwas verändert hatte. Und das nicht auf die natürliche, zu erwartende Weise. In den dunklen Augen des Ungeziefers war nicht die Spur eines Traumas zu finden.

Ihm war, als hätte er eine gänzlich andere Person vor sich. Da stimmte etwas nicht. Ganz und gar nicht. Irgendetwas an dem Mutanten beunruhigte den Offizier zutiefst.

Vorsichtig näherte er sich ihm und sein dunkler Blick löste sich nicht für einen Augenblick von ihm. Nummer Neununddreißig sprach nicht. Aber das musste er auch gar nicht. Der alte Kieran hätte jetzt verlangt, dass Preston ihn freiließ oder wäre auf Rache aus gewesen. Hätte sich von seinem Hass verzehren lassen. Wäre ihm an die Kehle gegangen, sobald der Offizier ihm die Ketten abgenommen hätte. Keine Sekunde lang hätte er gezögert oder sich zurückgehalten, so wie damals auch im Ambrosia Institut.

Aber dieser Kieran war nicht mehr. Nummer Neununddreißig war anders und ging die Dinge auch anders an. Er sprach nicht, weil er wusste, dass es verschwendete Mühe wäre. Preston war ohnehin hier, um ihn loszumachen. Wieso etwas fordern, was man offensichtlich sowieso bekam? Außerdem würde eine solche Forderung vielleicht sogar dazu führen, dass der Offizier ihn nur noch länger am Pfahl gekettet ließ.

Und wie er es erwartet hatte, behielt er Recht. Der Offizier löste die Ketten von seinen Hand- und Fußgelenken. Neununddreißig stürzte sich nicht auf ihn. Er sah dahinter keinen Sinn. Er war wieder frei und er konnte den Nutzen von Rache nicht erkennen.

Entstehungsgeschichte einer BestieWhere stories live. Discover now