11. Oktober 2054, 16.07 Uhr

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Als Neununddreißig langsam wieder zu sich kam, sah er weiß. Weiß, wohin man auch blickte. Es war allgegenwärtig. Kieran war dem Weiß niemals wirklich entkommen. Dazu war er nie in der Lage gewesen, auch wenn er das geglaubt hatte, damals, vor drei Jahren.

Weiß hatte ihn sein Leben lang verfolgt. Es hatte ihn fest in seinen Klauen gehalten und ihn nie losgelassen. Auch jetzt hatte es sich ihm wieder entgegengestreckt.

Die Erinnerung fütterte den Wunsch, der in ihm gefangen war. Ließ ihn wachsen. Ließ ihn kräftiger an den Gitterstäben in seinem Inneren rütteln. Die Stimme der Freiheit war lauter geworden. Doch in Neununddreißigs Kopf war sie kaum mehr als ein Wispern.

Mühsam setzte er sich auf. Ganz offensichtlich befand er sich in einer Zelle. Drei der Wände, die ihn umgaben, waren weiß. Doch die vierte Wand bestand aus Glas und er konnte in den Raum schauen. In gewisser Weise ähnelte er der Einrichtung im Ambrosia Institut, mit dem Unterschied, dass dieser Raum deutlich größer und moderner Wirkte. Auch die Anordnung der Geräte und Möbel wirkte deutlich geordneter und überlegter, als die Einrichtung des Labors, das Neununddreißig kannte.

Plötzlich bemerkte er, dass er gar nicht allein war. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Raumes, befand sich eine weitere Zelle, in der Zweihundereins bewusstlos am Boden lag. Und neben dessen Zelle befand sich die Zelle eines Mädchens.

Sie wirkte etwas älter als Neununddreißig und Zweihunderteins, vielleicht etwa sechzehn. Und sie war so blass wie frisch gefallener Schnee. Ebenso ihr Haar. Rechts und links standen große, spitz zulaufende Ohren von ihrem Kopf ab. Beide mit schneeweißem Fell überzogen. Ihre Augen waren genauso unmenschlich. Sie waren minimal größer und in einer Mischung aus braun und einem dunklen Gelb. Zudem war ihre Nase schmal und spitz. Auch sie lag noch bewusstlos am Boden.

Wenn Neununddreißig es richtig vermutete, musste sich rechts neben ihm eine weitere Zelle befinden.

Ansonsten gab es in dem Raum noch zwei weitere Türen. Anhand der Aufschrift der Tür an der linken Wand, ging es von dort aus zu den Testräumen. Und der Logik nach führte die Tür an der gegenüberliegenden Wand wohl in einen Gang und zu anderen Laborräumen. Jedenfalls war es so im Ambrosia Institut gewesen.

Große Monitore blinkten und zeigten Grafiken an, die dem Chamäleon nichts sagten. Kein Geräusch drang zu ihm hindurch. Die Zelle schien vollständig isoliert zu sein.

Auf einmal öffnete sich die Tür auf der rechten Seite und ein hagerer Mann trat durch die Tür. Einige seiner strohblonden Haare kämpften noch erbittert gegen die immer weiter fortschreitende Glatze. Ein langer weißer Kittel erweckte den Anschein, als wollte er sich den Mann vollkommen einverleiben.

Ein erfreutes Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, als er bemerkte, dass einer der Mutanten bereits wieder bei Bewusstsein war. Aus einer der Taschen seines Kittels, zog er ein kleines, beinahe durchscheinendes Gerät. „Ah! Neununddreißig, richtig?" Seine Stimme erklang direkt aus der Zelle. Aber das war kein Wunder. Immerhin war die Zelle isoliert, sodass keine Geräusche von außen eindrangen. In die Wände mussten Lautsprecher eingebaut worden sein, damit der Mann dennoch mit ihm kommunizieren konnte.

Er stellte sich vor die Glaswand, um dem Chamäleon gegenüberzustehen. „Ich bin Doktor Benton. Wir werden wohl noch einige Zeit zusammenverbringen. Um es uns beiden angenehmer zu machen, hoffe ich, dass du bereit bist, zu kooperieren." Er klatschte in seine Hände. „Na, dann! Wenn du schon einmal wach bist, beginne ich wohl mit dir. – Keine Sorge. Erst einmal werde ich bloß deine Gehirnströme messen."

Benton zog ein weiteres Gerät aus seiner Kitteltasche. Es war kaum mehr als eine schmale schwarze Platte, von der der Doktor drei kleine Scheiben abtrennte, die er sich einmal vorne und jeweils rechts und links an seinen Kopf klebte. „Du musst entschuldigen, dass ich nicht zu dir in die Zelle komme." Der Mann wischte einmal über die schwarze Platte und wirkte zufrieden. Beinahe zeitgleich traten zwei lange Metallarme aus der Wand in Neununddreißigs Zelle.

„Bitte verhalte dich ruhig.", bat Benton. Er benutzte keinerlei Controller, um die Metallarme zu steuern. Aber das Chamäleon ging einfach davon aus, dass die Scheiben an seinem Kopf die Arme mithilfe von Bentons Gedanken oder Gehirnströmen bediente.

Der Metallarm spaltete sich und offenbarte dem Mutanten etwas, das einer Hand mit drei Fingern nahekam. Langsam pressten sich die Finger an seinen Kopf und verharrten. Gebannt starrte der Doktor auf sein schwarzes Plättchen. „Ah, wie ich es mir gedacht habe.", sagte er. „Aber das erklärt noch immer nicht, wie so etwas überhaupt möglich ist." 

Entstehungsgeschichte einer BestieWhere stories live. Discover now