07. Oktober 2059

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Ohne Vorwarnung ergoss sich ein heftiger Regenschauer aus der grauen Wolkendecke und zwang Kieran, seinen Platz an der Bank zu verlassen und sich unter einen der Bäume zu stellen. Eigentlich hätte er sich einen anderen Unterstand gesucht, aber immerhin hatte er Noah gesagt, dass er hier sein würde. Dabei wusste er noch nicht einmal, wann und ob dieser überhaupt auftauchen würde. Vielleicht hatten seine Eltern die Akte gelesen, begriffen, dass er wirklich Kieran, aber zu einer Bestie geworden war und ihrem Sohn nun verboten, ihn aufzusuchen. Ehrlichgesagt war das relativ wahrscheinlich.

Resigniert sah Kieran hinauf in den Himmel. Es sah nicht so aus, als würde es bald aufhören zu regnen. Innerlich war er gespalten. Einerseits wollte er gehen. Andererseits wollte er wissen, wie das Ganze ausging. Also zwang er sich zur Geduld.

Es handelte sich um keine leichte Angelegenheit. Das, was Lisha und Amari in seiner Akte lesen würden, falls sie diese überhaupt lasen, war nicht leicht zu verdauen. In ihr wurden alle Vorgänge beschrieben, die aus Kieran keinen Menschen mehr machten. Ebenso wie die ganzen Tests und deren Abläufe. Darin wurde auch geschildert, wie Kieran im Alter von sieben Jahren das Mädchen tötete. Das zu erfahren würde ihre Entscheidung ganz wesentlich beeinflussen, ob sie es wirklich wagen sollten, sich mit ihm zu treffen.

Dabei wussten sie ja noch nicht einmal von den ganzen anderen Morden.

Es konnte Tage, wenn nicht sogar Wochen dauern, bis sie eine Entscheidung getroffen hätten. Vielleicht hätte er Mrs Harris um etwas Geld bitten sollen, damit er sich ein Hotelzimmer mieten könnte. Aber er hatte es nicht getan. Im Moment hatte sie viel zu tun. Außerdem trug sie ganz allein die Kosten für das große Grundstück, das sie erworben hatte und es gab noch viel zu renovieren und auch die Einrichtungsgegenstände mussten noch gekauft werden. Zudem ließ sie auch noch überall Werbung für ihre Mutanten-Auffangstation schalten und auch die Verpflegung kostete.

Und Kieran maß sich nicht an, ihr sonderlich nahezustehen. Sie waren Bekannte. Ja, sie war nett zu ihm. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass er das ausnutzen sollte.

Als er in seinem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte, spannte er sich sofort an. All seine Sinne waren geschärft und seine Aufmerksamkeit legte sich auf sie. Alarmiert schoss sein Blick zu der Ursache. Überrascht hielt er inne.

Dort im Regen unter drei Regenschirmen standen drei Personen. Sie waren stehen geblieben, als sie ihn erblickt hatten und standen jetzt ein wenig verloren am Rande des Spielplatzes. Bei ihnen handelte es sich um zwei Erwachsene und ein Kind. Kieran brauchte nicht lange, um Lisha und Noah zu erkennen. Der Mann musste dann wohl Amari sein. Und ihm fiel auf, dass er auch ihm bereits begegnet war, als er das Haus seiner Eltern hinter sich gelassen hatte und beinahe den Mann gerammt hätte.

Sie waren tatsächlich gekommen. Nervös flatterte sein Herz und innerlich bereitete er sich auf das Schlimmste vor. Schließlich wäre es nichts Neues, wenn wieder einmal für ihn alles schlecht lief. Außerdem war es besser, wenn er seine Erwartungen niedrig hielt. So konnte er nicht enttäuscht oder verletzt werden.

Verunsichert machten die drei sich auf dem Weg zu ihm. Dabei ließen ihn die Augen seiner Eltern nicht los. Nicht eine Sekunde. Und plötzlich standen sie vor ihm. Niemand wusste so wirklich, was er tun sollte.

Lange sahen sie einander einfach an. Schließlich war es Amari, der in Tränen ausbrach und ohne ein Wort zu sagen, zog er den Mutanten in seine Arme. Drückte ihn fest an sich, als wolle er verhindern, dass ihn ihm jemand wegnehmen könnte.

„Mein Sohn!", schluchzte er. Kieran war überfordert. Einerseits mit der Umarmung, da er bisher eher distanziert gewesen war und andererseits wegen seiner eigenen Emotionen. Eine gewaltige Last schien von ihm abzufallen. Er fühlte sich, als könne er endlich wieder frei atmen. Zaghaft erwiderte er die Umarmung seines Vaters.

Amari schluchze unaufhörlich. In ihm war ein Damm gebrochen und er konnte seine Tränen nicht zurückhalten. Aber das wollte er auch gar nicht. Er hatte seinen Sohn wieder! Seinen Sohn, den er für tot geglaubt hatte und der nun zu ihnen zurückgekehrt war.

Er musste sich nahezu zwingen, ihn wieder loszulassen. Weinend und lächelnd zugleich betrachtete er seinen Sohn, aus dem ein junger Mann geworden war. Dann überließ er ihn seiner Mutter. Diese hatte ein ganz schlechtes Gewissen, weil sie ihn an ihrer Tür abgewiesen hatte. Doch Kieran konnte ihr das nicht einmal übelnehmen. Wer würde schon glauben, dass der Sohn, dessen Tod die Ärzte bestätigt hatten, viele Jahre später wieder zu Hause klingelt?

Tränen traten Lisha in die Augen, als sie ihren verlorenen Sohn ansah. „Es tut mir so leid!", wisperte sie und schlug sich die Hände vor das Gesicht. Sie zitterte. „Es tut mir so leid!"

„Schon gut.", sagte Kieran leise. Seine Mutter hatte gehandelt, wie es logisch war. Das konnte er ihr nicht vorwerfen. Also überwand er sich und schloss sie in seine Arme. Und nun brach auch sie in Tränen aus. Ihr Schluchzen brachte ihren Körper zum Beben.

Während er sie umarmte, bemerkte er Noah, der sich ein wenig entfernt hatte und ihm glücklich entgegen lächelte.

An diesem Tag erwähnte niemand, dass Kieran kein Mensch mehr war. Denn das war ein Thema für ein anderes Mal. Jetzt zählte nur, dass die Familie wieder komplett war. Damals, vor siebzehn Jahren hatten Amari und Lisha das verloren, was ihnen am Wichtigsten war. Es waren dunkle Jahre gewesen. Jahre der Trauer, Jahre der Schuld.

Aber nun riss die dichte Wolkendecke auf und die Sonnenstrahlen flossen wie goldenes Licht auf die Erde.

Ihnen war die Chance auf einen Neuanfang gegeben worden. Und die würden sie nutzen. Sie würden es wieder als Familie versuchen. Auch, wenn jeder von ihnen wusste, dass es nicht einfach werden würde. Kierans Vergangenheit bestand aus Dunkelheit, Leid und Schmerz. Und auch zwischen Amari und Lisha standen Jahre der Streitereien. Sie würden einander helfen müssen. Einander Zeit geben müssen.

Vor allem Kieran würde ihre Unterstützung bitter nötig haben, um sich in der Welt zurechtzufinden und auch, um den Menschen eine zweite Chance zu geben. Und er war gewillt, sie ihnen zu geben. Endlich würde er die Freiheiten eines normalen Lebens genießen können. Eines Lebens ohne Tod und ständig währender Gewalt. Vielleicht würde er mit der Hilfe seiner Familie eines Tages seinen Frieden finden.

Entstehungsgeschichte einer BestieOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz