Kapitel 17

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Der Mann vor ihm war unbewaffnet.
Er hatte zumindest keine entsicherte Pistole auf Alexanders Gesicht gerichtet, das war wenigstens ein Fortschritt. Ansonsten sah er allerdings aus wie aus einem Hollywood-Film entsprungen: Er trug eine schwarze Weste über einem weißen Hemd und blutroter Krawatte. Aus der Brusttasche, wo normalerweise das Einstecktuch platzfand, ragte der Rand zweier Spielkarten, deren Ecken völlig zerknickt waren. Ein Fedora verbarg seine Haare und warf einen Schatten auf die kleinen Augen, die unter der Krempe listig funkelten. Der Mafioso war nicht so breit gebaut wie Alpin oder Moretti, doch an seinem Hals zeigte sich trotzdem der Ansatz eines Doppelkinns. An Wangen und Händen, die auf einem schwarzen Gehstock mit silbernem Griff lagen, zeigten sich erste Falten, und jeder Daumen wurde von einem dicken Siegelring eingefasst.

Alexander atmete tief durch. Er spürte ein leichtes Kratzen im Hals, hatte heute schon mehr Überzeugungsarbeit leisten müssen, als sogar er es gewohnt war. Und die Müdigkeit schien nicht nur seine Glieder, sondern erschreckenderweise auch seine Zunge zu lähmen...
Aber er ließ sich nicht niederdrücken.
Weder von seinem eigenen Inneren noch allem, was sich ihm physisch in dem Weg stellte.

Er hob sein Kinn, sah dem Mafiaboss direkt entgegen, der seinen Kopf gesenkt hielt. Alexander hätte geschmunzelt über den Fakt, dass sein Gegenüber diese Haltung für den dramatischen Effekt beibehielt, sein Gesicht in Dunkelheit verbarg. Doch das kalte Blitzen darunter mahnte ihn zu äußerster Vorsicht – der Mafioso hatte die Fähigkeit gemeistert, von unten auf andere Menschen herabzusehen.

Es war nicht der Journalist, der zuerst das Wort ergriff. „Wie schön, offiziell deine Bekanntschaft zu machen, Schreiberling in den Schatten." Alexander lief ein Schauder über den Rücken, als die Stimme ihn in ihren Bann riss. Er hatte einen rauen Ton erwartet, ein Krächzen, das Alter und Aussehen des Mannes vor ihm widerspiegelte. Doch seine Klangfarbe war ein weiches Streichen über seinen aufgewühlten Geist... tiefenlos, aber völlig vereinnahmend. Sie war ein samtenes Tuch, das sich über seine Gedanken legte, die Worte so klug gewählt, dass er unwillkürlich die Schönheit des Satzes wahrnahm.

„Meine Madre rief mich nicht Rossi, aber bitte, nenne mich bei diesem Namen. Es bereitet mir Freude, Lügen zu Wahrheiten zu machen." Der Italiener sprach seltsam langsam, als müsste er den Geschmack jeden Wortes erst auskosten, aber das tat der dunklen Tiefe seines Redeflusses keinen Abbruch. Und Alexander bekam die Botschaft hinter diesen Worten mit.
Es war eine Lüge, dass er eine Gefahr für die italienische Mafia darstellte, hatte er doch das belauschte Gespräch ihrer Anführer unwiederbringlich vergessen, hatte sie im Endeffekt niemals auch nur getroffen. Der Boss selbst machte diese Lüge hier und jetzt zur Wahrheit.

Alexander legte seinen Kopf schief, betrachtete den Mafioso mit neuem Interesse. Es gab nicht viele Menschen, die es im Dialog mit ihm aufnehmen konnten – er hatte bis heute gezweifelt, dass das überhaupt möglich war. Er war sich sicher, dass er die erstickende Schwere durch Rossis Worte mit seiner kühlen Schärfe ohne Probleme hätte zerfetzen können, aber die Schmerzen aus seinen Händen zehrten an seinen Nerven, und der Tag war lang gewesen.
Es war still geworden zwischen den Meistern der Metaphern, einer von beiden zu erschöpft, um sich seinen Sieg zu holen. Der andere wusste, dass der Sieg von selbst zu ihm kommen würde.

„Sie sind ein Lord, Rossi", brachte Alexander etwas mühsam hervor, mit einer Stimme, die ihm schleppend vorkam, aber dennoch schneller war als die des Mafiosos. „Doch Sie sind der Lord eines Luftschlosses. Ihre Macht existiert hier nicht, zwischen Ihnen und mir, denn ich bin kein unbelehrbarer Untertan, den Sie in Ketten legen können." Sie beide waren Menschen, die sich anderen überlegen fühlten. Der Journalist wusste, dass sie auf einer Augenhöhe waren, der Mafiaboss das aber kaum zugeben würde. „Sie sind der Lord Ihres Luftschlosses, ich aber bin der Lord der Lüfte selbst. Ein Adler, jünger als Sie selbst es sind, und kräftiger – fluggeschwind im Orkan wie in der sanften Brise. Sie werden mich nicht einfangen, denn Sie genießen es, meinem Spiel mit dem Sturm zuzuschauen."
Er atmete ruhig. Seine Worte hatten ihn wieder eingefangen, ihn erinnert, wer er war. Vor wem Rossi hier stand. Nicht jeder war empfänglich für diese Metaphern, aber der Mafiaboss war fähig genug, anfällig für sie zu sein. Sie waren schön.

Seine stärkste WaffeOnde histórias criam vida. Descubra agora