Kapitel 2

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Ein Tag, der so begonnen hatte wie Alexanders, konnte gar nicht gut werden.
Er setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, konnte zwar mittlerweile wieder klar denken, hatte aber noch immer genug Restalkohol im Blut. Bis zur nächsten U-Bahn brauchte er zu Fuß zehn Minuten, und die warme Spätsommersonne platzte jetzt schon auf seine schwarzen Haare. Die Mundwinkel verkniffen verzogen, fuhr er sich mit den Fingern durch die kurzen Strähnen, die sich viel zu fettig anfühlten. Vermutlich sah er genauso beschissen aus, wie er sich fühlte.

Die Vögel, die sich irgendwo in den wenigen Naturflecken zwischen dem Grau Brownsvilles tummelten, schienen ihn mit ihren fröhlichen Liedern auszulachen. Die Hände in den Taschen vergraben, schlurfte er mit gesenktem Kopf über das unregelmäßige Kopfsteinpflaster, erst aufsehend, als er das Motorengeräusch eines Fahrzeugs näherkommen hörte. Das laute Knattern hieb wie ein Hammer auf seine Ohren ein, zusätzlich verstärkt vom Echo, das die schmutzig weißen Häuserwände zurückwarfen. Als das dreckbespritzte Motorrad dicht an ihm vorbeifuhr, obwohl er sich eng gegen die Fassade rechts neben ihm presste, spürte er den Luftzug deutlich, und sein Mantel wehte ihm um die Oberschenkel. Alexander hob kurz die Augenbrauen, mit dem missmutigen Verlangen, dem behelmten Fahrer eine Drohung hinterherzuwerfen, aber bevor er sich dazu durchringen konnte, war das Zweirad schon außer Sichtweite.

Hinter vorgehaltener Hand gähnend trat Alexander aus der Häuserschlucht heraus und bog nach rechts ab auf einen breiteren Weg aus flachen Steinplatten. Gedanklich lag er schon im wunderbaren Boxspringbett in seinem Apartment in Lower Manhattan, einer Gegend, die weitaus angenehmer war als das schmutzige Brownsville. Dunkle Ecken fand man hier an beinahe jeder Straßenkreuzung, und in diesem Viertel Brooklyns mied man die Schatten besser. Der Skatepark, der sich zu Alexanders Linken ausbreitete, war von der Sonne zwar vollständig erleuchtet, sah aber auch nicht allzu vertrauenserweckend aus. Der Journalist warf nur einen kurzen Blick auf das verlassene Board, das mit leisem Rauschen in einer der kleineren Rampen pendelte, und beschleunigte seinen Schritt unwillkürlich. Die kleinen Kiesel, die sich neben dem Unkraut auf die Steinplatten geschlichen hatten, knirschten unter seinen Boots auf wie unruhiges Untotengeflüster.

Alexander schauderte kaum merklich und verfluchte seine Anwandlungen, sogar in Gedanken Wortbilder zu spinnen, die ihre Zuhörer – ihn allein, in diesem Fall – mehr mitnahmen als sie sollten. Er war hier nicht in Gefahr. Er würde in vier Minuten die Treppe zur U-Bahnstation hinuntergehen und dann geradewegs nach Hause fahren. Trotzdem konnte er sein inneres Drängen nicht unterdrücken, mit einem prüfenden Blick seine Umgebung zu scannen. Obwohl er tief durchatmete, spürte er, wie sein Herz schneller schlug, sobald er eine breitschultrige Gestalt am anderen Ende des Weges erkannte.

Er zitterte trotz seines Mantels, und mit eiligen Fingern knöpfte er den oberen Teil zu, obwohl das viel weniger elegant aussah. Der Fremde war nur gute hundert Meter von ihm entfernt, aber er sah für Alexanders müdes Hirn sogar aus dieser Entfernung bedrohlich aus. Unruhig warf er einen Blick über seine Schulter zurück zum Skatepark, wo das Board jetzt verschwunden war. Die Schanzen blitzten metallisch in der Sonne, nur die Fläche hinter der größten Rampe lag im Schatten. Schwer atmend kniff Alexander seine Augen zusammen, für einen Moment sicher, dort hätte sich etwas bewegt.
Etwas zu lang, als dass es als Wimpernschlag gelten konnte, senkte er die Lider komplett. Der Alkohol... Daran war sein Hangover schuld. Hoffentlich.

Doch sobald Alexander seinen Blick wieder auf den Weg richtete, blieb er stehen wie erstarrt. Da waren jetzt zwei Männer vor ihm, beide komplett in schwarz gekleidet. Einer hatte die Kapuze seines Hoodies hochgezogen, und der Schirm einer Baseballcap ragte darunter hervor, dem anderen standen die dunklen Locken wild vom Kopf ab. Diese beiden sahen ganz klar nicht so aus, als wären sie zufällig hier, und nach dem Verfassen von zweiunddreißig Entführungsberichten hatte Alexander aufgehört, an die Unschuld im Menschen zu glauben. Wenigstens war er nicht mehr der Einzige, der aussah, als hätte er eine Nacht betrunken auf der Eckbank eines illegalen Pubs verbracht.

Seine stärkste WaffeWhere stories live. Discover now