Kapitel 15

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„Die größten menschlichen Muskeln liegen im Rücken und in der Beinmuskulatur." Alexanders Stimme war ruhig, durchdrang den beinahe leeren Raum aber ohne Probleme. Der kühle Stein der Wand war hart an seiner Seite, und direkt vor ihm zeichnete sich der zusammengekrümmte Schatten Moores deutlich auf dem hellen Untergrund ab. Sie bewegte sich nicht, atmete aber flach – sie lauschte auf seine Worte.
„Über diese Muskeln hast du vollkommene Kontrolle. Mit ihnen als Waffen kannst du jeden Gegner unterwerfen, der sich dir entgegenstellt." Er setzte sich jetzt ebenfalls nieder, auf seine Knie, die etwas Schutz vor der Kälte von unten boten. Er heftete seinen Blick fest auf Moore, die ihm noch immer auswich, aber wohl wusste, dass er sie fixierte.
„Der stärkste menschliche Muskel ist der Kaumuskel, und der flexibelste jener in unserer Zunge."

Er wandte seinen Oberkörper ihr zu, kippte den Kopf leicht auf die Seite und streckte die Hand behutsam nach ihrer Schulter aus. „Moore, was ich damit sagen will... Die Kunst, die ich beherrsche, ist richtig eingesetzt ebenso effektiv wie deine Kämpfe. Ich kann einen Mann mit einem Haken ausschalten, aber genauso meinen Zeigefinger in einen Nervendruckpunkt stoßen. Beides wird ihn so behindern, dass ich entkommen kann."
Er berührte sie nicht, hätte das mit seinen Verletzungen auch gar nicht gekonnt, aber er bezweifelte auch so, dass sie reagiert hätte.

„Es ist nicht nur ein Mann, der zwischen mir und meiner Freiheit steht, aber es bin auch nicht nur ich, der dafür kämpft."
Er verstummte für den Moment, ließ den Satz bedeutungsschwer in der Luft hängen. Und obwohl sie sich länger Zeit ließ, als in einem Gespräch höflich war, machte sie mit ihrer Antwort seinen Monolog überhaupt erst zum Gespräch. „Hörst du dir selbst eigentlich zu? Ich war es, die dir deine Freiheit erst genommen hat. Indem ich dir alle Entscheidungen abgenommen habe, dich unwissentlich zum Köder gemacht... Ich bin die, gegen die du kämpfen solltest."
Ihre Klangfarbe war nicht bedauernd, und ihre Mimik zeigte keine Spur von Reue. Sie sprach nüchtern, legte schlichte Fakten auf den Tisch – auch wenn ihre Stimme zitterte und ihre Wangen im grellen Licht eingefallen wirkten.

Alexander zuckte die Schultern. „Du hast sie mir genommen, du wirst mir helfen, sie wiederzuerlangen. Simpel."
Nach außen war es nicht spürbar, doch seine Stimmung hellte sich auf, als sie leicht den Kopf schüttelte. Es bahnte sich eine Diskussion an, und damit konnte er umgehen. „So funktioniert das Leben nicht. Es gibt kein „Freiheit nehmen – schwarz", „Freiheit geben – weiß". Ich habe viel getan, was ich vergelten müsste, und genauso viel, was mir nie vergolten wurde. Ich bin eine personifizierte Graustufe, Alec."
Als sie ihren Kopf leicht anhob, waren ihre Augen noch halb von blonden Strähnen verhangen, aber er erkannte dennoch das vertraute Braun dahinter. Der Journalist lächelte.

„Trifft sich gut, dass Grau mir ausgezeichnet steht. Dann los, ich muss heute Abend noch staubwischen."
Er stand auf, klopfte sich kurz mit den Handgelenken den Dreck von der Hose und streckte ihr dann seine Finger entgegen. Moores Augen folgten ihm kurz ausdruckslos, ehe sie knapp den Kopf schüttelte. „Alexander..."
„Tamara."

Sie schnaubte kurz, und der Journalist schürzte kaum merklich die Lippen. Hinter ihrem in diesem Licht merkwürdig matten Blick hatte er förmlich beobachten können, wie eine neue Schicht Mauern in ihrem Geist hochfuhr. „Ich bin nicht Tamara."
Er zog seine Augenbrauen hoch, abwartend, dass sie fortfuhr. „Wer bist du dann? Agent Fox?", half er nach, mit einem etwas gepressten Unterton – seine Geduld näherte sich dem Ende. Seine Daumen fühlten sich mittlerweile furchterregend taub an, obwohl die Schmerzen immer noch blitzartig seine Arme hochfuhren, sobald er die Hände bewegte. Und auch innerlich war er unruhig, wollte der kühlen Enge dieses Kerkergebäudes endlich entkommen.

Moore sah aber nicht so aus, als wäre sie sonderlich in Eile. „Fox war eine junge Agentin der CIA, die einen festen Platz an der Seite ihres Bruders Isaac und ihres besten Freundes Lev hatte." Diesmal suchte sie den Blickkontakt, mit leicht geweiteten Augen, als würde sie ihn zu Widerworten provozieren wollen. „Ich bin Einzelkind."
Beinahe reglos sah er auf sie hinab, hatte eine seltsame Geisteshaltung eingenommen – als würde er die Szenerie von außen betrachten, als könnte keines ihrer Worte ihn emotional treffen. „Ist Isaac der Unschuldige, den du verloren hast?"

Moores Nasenflügel bebten, und für einen Moment sah sie zornig aus – als hätte er eine unsichtbare Linie überschritten. Alexander war nicht überrascht, denn dass er Grenzen erkannte, hieß nicht, dass er sich daranhielt. Doch die beklommene Ruhe, die auf der Agentin lag, erkämpfte sich binnen Sekunden erneut die Überhand, und sie senkte ihren Kopf wieder. „Verloren habe ich ihn, aber er war nicht unschuldig. Das war Lev... Den du als Cougar kennst."
Alexanders Hände krampften sich leicht zusammen, seine Muskeln bewegten sich für wenige Zentimeter, bevor der Schmerz ihn zwang, wieder lockerzulassen. Sie hatte ihn überrascht. Dies war eine Geschichte, die er nicht am Cover hatte erraten können.

„Du bist nicht Fox", lenkte er stur wieder auf das alte Thema zurück, entschlossen, sich nicht vom Wesentlichen ablenken zu lassen. Immerhin war es offensichtlich gewesen, dass sich da etwas zwischen ihr und Cougar abgespielt hatte. Nur, dass es in dieser Art-...
Fokus.
„Wer bist du, Moore?"

Sie starrte ihn kurz an, schob dann beinahe trotzig ihr Kinn vor und schwieg.
„Moore." Alexander verschränkte seine Arme, wandte seinen Blick keinen Wimpernschlag von ihr ab, und ihr verkrampfter Kiefer zitterte. Er atmete ruhig, setzte wieder zum Sprechen an, da unterbrach sie ihn mit einem schlichten „Alec". Ihr Ton war warnend, aber weniger firm, als er es gewöhnt war. Trotzdem lächelte er.

„Moore." Es klang schon nicht mehr wie ein Wort, dieser... Begriff, den seine Zunge wieder und wieder formte. Dieser Name. „Das bist du. Moore. Äußerlich bist du klein, mit den Engelslocken und den Rehaugen. Innerlich aber umso größer, stets darauf bedacht, den Raum auszufüllen, in dem du dich befindest. Immer, wenn du durch einen Türrahmen gehst, ziehst du den Kopf leicht ein – damit du dich, sobald du ein Zimmer betrittst, aufrichten kannst, größer wirkst. Triffst du fremde Menschen, schiebt sich dein Kiefer vor, so herrlich provokant. Du hasst es, unterschätzt zu werden, aber wenn jemand dafür dumm genug ist, liebst du es, ihm das Gegenteil zu beweisen. Du bist eine sture Furie, Moore."

Er lächelte schmallippig, nicht sanft genug, um den harten Ton aus seinen Worten zu nehmen, aber doch ausdrucksstark. „Wenn du vor dem Steuer sitzt, fährst du jeden Gang komplett aus, hast oft eine hohe Motordrehzahl drauf, um so schnell wie möglich die Geschwindigkeit zu wechseln. Deine Stimme wird rau, je länger du sie benutzt, weil du lieber Fäuste sprechen lässt. Du weißt, wie du sie als Waffe einsetzen kannst, aber stolz und stur, wie du bist, entscheidest du dich bewusst dagegen. Du bist eine Frau. Eine kleine Frau, die die effektivsten Waffen beiseitelässt, weil sie beweisen will, dass sie auch mit manchmal ineffizienter körperlicher Kraft jeden Gegner besiegen kann. Das ist aber keine hässliche, rohe Angelegenheit bei dir. Du machst eine Kunst aus jedem Kampf... einen Tanz. Und du bist schön, Moore. Aber es ist dir egal. Das Einzige, was wichtig ist, ist deine nächste Mission... dein nächster Klient. Du beschützt ihn mit allem, was du hast, weil du es kannst. Gefühle würden dich dabei nur behindern. Aber manchmal schleichen sie sich doch dazwischen, nicht wahr? Manchmal hast du ein schlechtes Gewissen ob deiner Methoden. Und du magst es nicht, erinnert zu werden, dass du auch nur ein Mensch bist. Jemand, der Fehler machen darf. Jemand, der auch mal gefangen am Boden sitzen und verzweifeln darf."

Alexander tat einen tiefen Atemzug. Seine Worte waren ein gleichmäßiger Fluss gewesen, nicht einmal zum Ende hin gepresst, denn er war es gewohnt, lange Reden zu halten. Er war nicht wie sie.
„Weißt du, was wir Menschen machen, wenn wir fallen? Wenn wir geruht haben, um wieder Kraft zu sammeln?" Er streckte ihr erneut die Hand entgegen, mit zitternden Muskeln, aber festem Blick. „Wir helfen einander, wieder hochzukommen. Wir kämpfen füreinander. Denn obwohl keiner von uns perfekt ist, können wir uns so ergänzen, dass wir unschlagbar werden."

Während seines gesamten Monologs war sie stumm geblieben. Sie hatte nicht einmal ihre Augen abgewendet, den Blickkontakt gehalten, so ausdruckslos, wie er es von ihr gewohnt war. Aber wenn der Journalist sich konzentrierte, beinahe drohte, in den braunen Tiefen zu versinken, konnte er das Funkeln wahrnehmen. Es war kaum mehr als eine Glut, aber er war der Windstoß, der es zum Feuer entfachen konnte.
Ohne Vorwarnung packte Moore seine Finger, steckte Alexanders Daumen in Flammen – der energetische Ruck, mit dem sie sich hochzog, verbrannte seine Nervenzellen in einem qualvollen Aufglühen. Er schrie nicht, zuckte nicht zurück, ertränkte seine Schmerzen in ihren leuchtenden Augen.

Er drehte sich auf den Fersen um und steuerte die Tür an, nur kurz davor innehaltend, damit Moore sie aufziehen konnte. Er brauchte seine Hände nicht. Sie war seine Hand. Seine Faust, die jeden vernichten würde, der sich ihnen in den Weg stellte.
Und er war ihre Zunge, die sich um den Rest kümmern würde, der danach noch am Leben war.

Seine stärkste WaffeWhere stories live. Discover now