~Kapitel 21~

266 17 2
                                    

~Erinnerung~

Was sollte ich jetzt tun? Ich wusste, dass mein Leben im Grunde keinen Sinn mehr machte, doch sollte mein Tod das verändern? Vielleicht gab es ja wirklich sowas wie Himmel und Hölle und vielleicht war es dann besser am Leben zu bleiben, als in die Hölle zu wandern. Doch auf der anderen Seite war mein Leben bereits meine eigene Hölle. Es konnte wohl kaum schlimmer werden als jetzt. Ich wollte sterben. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlte. Ich hatte mich nicht geritzt oder sonst was, weil ich mich nicht lebendig fühlen wollte, sondern tot. Ich wollte, dass endlich all der Schmerz aufhörte. Ich wollte keinen Kick, keinen Adrenalinstoß, der mich zurück ins Leben holte. Ich wollte dieses Leben verlassen. Ich vermisste meinen Vater mit seinen dummen Sprüchen und seinen albernen Warnungen vor Jungs an meiner Schule. Meine Mutter mit ihren unnützen Ratschlägen und ihren ekelhaften Kochrezepten. Als sie noch gelebt hatte, hatte ich ihr Essen immer stehen lassen, weil ich lieber eine tiefgekühlte Pizza essen wollte, anstatt ihres Spinatauflaufes. Jetzt wünschte ich mir ihr Essen sehnlichst herbei und würde es nie wieder haben. Es war immer noch schwierig für mich zu realisieren, dass sie tot waren, einfach weg. Ich konnte mich noch nicht einmal von meiner Mutter und Sam verabschieden. Nur mit meinem Vater hatte ich den ganzen lieben lagen Tag gesprochen, in der Hoffnung ihn so irgendwie am Leben zu erhalten, doch ohne Erfolg. Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich die schmerzlichen Erinnerungen an die letzten Momente mit meinem Vater beiseite schob.

Doch am meisten fehlte mir Michael. Er hatte mich so tief verletzt, wie es noch nie jemand geschafft hatte. In jedem Moment dachte ich an ihn. Ich vermisste unsere Gespräche, seine schräge Art, seine Stimme, seinen Duft, die Art wie er den Kopf schief legte, wenn er nachdachte. Er war nicht tot, sagte ich mir immer wieder. Er hatte mich einfach so verlassen, ohne mir einen wirklichen Grund zu nennen. Mein Magen drehte sich um, als ich daran zurückdachte, wie kalt er mich angeschaut hatte, so, als ob alles ,was er sagte, wahr wäre.

Mein Schädel schien fast zu explodieren, mein Herz zerriss alle meine Blutgefäße und meine Nerven vibrierten in jedem Körperteil. Ich spürte das kalte Metall unter meinen Händen, als ich mich über das Geländer beugte. Autos rauschten an mir vorbei, keiner der Fahrer warf mir auch nur einen Seitenblick zu. Sie waren zu sehr beschäftigt, mit sich selbst oder ihrer Arbeit. Das konnte mir nur recht sein. Ich warf einen Blick hinunter ins Wasser, während ich mich fragte, ob ich mir nicht doch lieber eine Pistole hätte besorgen sollen. Doch ich war mir nicht sicher, ob ich es schaffen würde, den Abzug zu betätigen. Wahrscheinlich nicht. Das lag an meinem Überlebensinstinkt und an der kleinen, schwachen Stimme in meinem Kopf, die mir zurschrie, wieder nach Hause zu gehen und mich zurück ins Bett zu legen, doch das konnte ich nicht. Außerdem hatte ich schon immer einen Sinn für das Dramatische gehabt. Ein verzweifelter Sprung von der Brücke wäre genau das richtige Theater. Ich wusste nicht mal, ob das jemand bemerken würde, doch mittlerweile war mir das auch egal. Mir war alles egal. Meine Eltern waren weg, Sam war weg, Michael war weg. Sie hatten mich verlassen, ich war alleine.

Ich spürte eine einsame Träne an meiner Wange, eine von vielen in den letzten Wochen. Ich hatte mir immer wieder gesagt, ich würde aus diesem Loch wieder rauskommen, dass es vielleicht sogar erst schlimmer kommen müsste, bevor es besser werden könnte. Doch daran hatte ich selbst nie geglaubt. Es war etwa kurz nach zwei am Morgen, die Brücke war nur mäßig befahren und die Straßen waren nass. Ich blendete das Rauschen der Motoren aus, konzentrierte mich auf das Wasser. Ich schluckte. Wollte ich wirklich sterben? Ich kannte die Antwort. Vorsichtig stieg ich hinter das Sicherheitsgeländer. Meine Haare flatterten im Einklang mit meiner Jacke im kalten Wind von Seattle. Ich spürte wie ich zitterte, doch wirklich wahrnehmen tat ich es nicht. Meine Hände fühlten sich taub an und meine Beine, als würden sie jeden Moment nachgeben und mir die Entscheidung zu springen abnehmen. Ich wollte springen, ich musste. Ich wollte so nicht mehr leben, so zerstört und alleine. Ein letztes Mal sog ich scharf Luft  in meine Lungen. Der Aufprall im Wasser würde schmerzhaft werden, doch die Brücke war hoch genug, dass ich sterben würde. Meine Rippen würden alle brechen und die Luft würde mir aus den Lungen gedrückt werden. Entweder ich würde beim Aufprall selbst sterben oder an meinen Verletzungen im Wasser erliegen. Ich schloss die Augen. Ich würde sterben, endlich wäre ich an einem friedlichen Ort. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen.... 1... einatmen, ausatmen...2 ein- und aus, immer ruhig einatmen, ausatmen....3.

Meine Füße fanden das Ende des Absprunges und ich ließ mich fallen. Ich wollte nur noch fallen, die entsetzlichen Schmerzen fühlen, um dann nie wieder etwas fühlen zu müssen, doch mein Plan ging nicht auf.

Eine Hand schloss sich um mein Handgelenk und ich wurde zurück ans Geländer geschleudert. Meine Wirbelsäule tat einen Schlag und ich hatte für kurz das Gefühl, sie würde brechen, als ich gegen das harte Metall gerammt wurde. Ich keuchte verzweifelt. "Tu das nicht", sagte eine Stimme an meinem Ohr. "Bitte." Eine Gänsehaut durchzuckte meinen ganzen Körper und mein Herz hämmerte gegen meine Rippen, wie noch nie zuvor. Es war seine Stimme. Er war hier. Michael war hier, bei mir. "Bitte spring nicht." Ein in schwarz gekleideter Arm schloss sich um meine Taille und drückte mich schmerzhaft fest gegen das Geländer. Tränen rannen mir über die Wangen und tropften in die ewigen Tiefen des Wassers unter mir. Eien seiner Haarsträhnen kitzelten mich am Ohr, während ich seinen heißen Atem im kontrast zu der kalten Umgebungsluft auf meinem Nacken spüren konnte.

 "Arien, komm zu mir, bitte", sagte Michael, doch ich konnte mich nicht bewegen. Ich starrte in die Schwärze unter mir. Ich wäre gesprungen. Wenn Michael mich nicht aufgehalten hätte, wäre ich gesprungen. "Du sagest, du willst nicht mehr", presste ich zwichend en Zähnen hervor. Mein Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig und viel zu schnell. Ich krallte mich an seinem Arm fest, sodass sich meine Fingernägel in den Stoff des Mantels gruben. Ich konnte die Autos hinter mir an uns vorbeirauschen hören. "Du hast gesagt, es wäre vorbei und du würdest nie wieder kommen", ich stockte und schnappte keuchend nach Luft. Ich spürte den salzigen Geschmack der Tränen auf meinem Gesicht.

"Das war gelogen." Michaels Stimme bebte etwas. Sein Griff wurde nicht lockerer, eher im Gegenteil. Um jeden Preis wollte er verhindern, dass ich sprang. "Ich wollte dich nur beschützen...Arien, bitte." Ich sog zischend Luft durch meine Zähne. "Lass mich los", bat ich so ruhig, wie es mir möglich war. "Nein." Sein Ton war plötzlich verzweifelt geworden. Mit all meiner inneren Kraft legte ich meine Hand auf seine. Ruhig strich ich mit einem Finger über seinen Handrücken. Nur schwer konnte ich die unsagbare Wärme ignorieren, die von ihm ausging. "Vertrau mir, bitte", sagte ich leise, sodass er es gerade noch so verstehen konnte. Ich spürte wie er seine Hand zur Faust ballte und schließlich langsam den Arm von mir löste.  Er keuchte kurz, als ich mich umdrehte. Aus den Augenwinkeln sah ich seine Arme, ausgestreckt, um mich abzuhalten, von dem, was ich vorhaben könnte.

"Du bist wirklich hier", sagte ich leise und meine Finger strichen wie automatisch über seine Wange. Ich fühlte eine Hand auf meinem Rücken und die andere an meinem Hinterkopf.  "Ja.. ich bin hier und ich werde nicht gehen... nicht schon wieder. Arien, es tut mir leid..."

"Verlass mich nie wieder so, okay?", sagte ich und in dem Moment brach etwas in mir zusammen. Das letzte bisschen, was mich zusammengehlaten hatte, war in tausend Teile zersprungen. Ich ließ mit meiner linken Hand das Geländer wie in Trance los und wäre Michael nicht da gewesen, wäre ich gefallen. Er half mir über das Geländer zu ihm und ich brach augenblicklich auf dem nassen Boden zusammen. Alle Last, die ich in den letzten Wochen getragen hatte, fiel auf einmal von mir ab und damit auch das letzte Stück meiner selbst, das mich am Leben erhalten hatte.

Ich hörte seine Stimme, doch es waren nur unverständliche Worte. Alles wurde schwarz.

Evil AntichristWhere stories live. Discover now