43. Endlich.

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Ich schnappe mir eine Tasche, packe Geld, Wasser und einen Apfel und meinen Haustürschlüssel ein, renne die Treppe runter und ziehe mir Schuhe und eine Jacke an. Dann verlasse ich das Haus und laufe zu der nächsten Bushaltestelle. Dort warte ich auf den nächsten Bus, der aus der Stadt zu irgendeinem Dorf fährt und steige ein. Leise läuft Musik durch meine Kopfhörer in mein Ohr und ich betrachte mein Spiegelbild in der leicht beschlagenen Fensterscheibe. Ich habe noch versucht das Schlimmste zu verdecken, trotzdem habe ich tiefe und dunkle Augenringe und meine Haut ist blass. Gestern war doch ein bisschen viel. Mein Kopf schmerzt. Meine Wangen sind eingefallen, mein Haar ist glanzlos und hängt mir wirr ins Gesicht. Mit einer fahrigen Bewegung streiche ich es mir aus den Augen. Es trifft mich wieder einmal schwer, wie kaputt mich das alles macht. Ich lehne meinen Kopf nach hinten, damit ich mich nicht weiter anschauen muss. Was Fairytale jetzt wohl macht? Ich schließe die Augen. Ich kann nicht genau sagen, wie es ihm geht. Meine eigenen Gefühle sind zu stark. Ich öffne die Augen wieder und schaue mich in dem Bus um. Es sitzt kein anderer hier. Ich bin alleine mit dem Busfahrer, der mir ganz nett erscheint. Alle anderen Leute sind in der Schule oder arbeiten. Aber ich kann mich  nicht in einen stickigen Klassensaal auf einen Stuhl setzen und stundenlang irgendwelchen Lehrern zuhören, die versuchen mir etwas beizubringen. Ich kann gerade nicht diese wabernde Masse an Wörtern ertragen, die in mein Hirn fließen, ich sie aber nicht erfassen kann und sie mir einfach wieder entwischen und sich falsch zusammensetzen. Ich reibe mir müde die Schläfe. Langsam sinkt mein Kopf zur Seite und ich sinke in einen ungestörten Schlaf, bis der Bus ruckend Hält und mein Kopf unsanft an die kalte Scheibe schlägt. Ich blinzle ein paar Mal, dass schaue ich auf das Schild an der Bushaltestelle draußen neben meinem Fenster und springe auf. Ich raffe schnell meine Tasche auf und springe aus dem Bus. Hinter mir schließt sich die Tür wieder und eine alte Frau setzt sich auf meinen Platz. Sie muss gerade eingestiegen sein. Der Bus fährt davon und ich stehe in der Kälte und schaue ihm nach, bis er um eine Ecke gefahren ist. Ich schaue mich um. Ich kenne dieses Dorf. Ich war früher öfter mal mit meiner Oma hier her gelaufen. Das Dorf, in dem sie wohnt ist direkt daneben. Ich sehe den Wald, wie er sich in einem rotbraun hinter den Häuserdächern erstreckt. Ich laufe los. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben.

Ich laufe unter den fast gänzlich kahlen Baumwipfeln hindurch und kicke die abgestorbenen Blätter mit meinen Schuhen. Ich treffe aus Versehen einen Stein. Er hüpft ein paar mal und bleibt dann direkt vor meinem Fuß liegen. Ich kicke ihn noch einmal. Eine Tränen tropft von meinen Wimpern. Gefolgt von noch einer und dann noch einer. Michael. Es ist wie ein Schlag in die Magengrube, nur schmerzhafter. Mein Herz ist in zwei Teile gebrochen. Die eine Hälfte gehört Fairytale und die andere, die kleinere, Michael. Ja, ich gestehe mir ein, ich mag Michael sehr. Aber ich liebe Fairytale. Und diese Liebe ist stärker. Oder? Nein, da gibt es doch nichts nachzudenken! Ich würde immer Fairytale wählen. Ich kämpfe mit mir. Ich vergesse nachzudenken, was ich tue und finde mich irgendwann wieder, schwer atmend auf einer alten mit Moos überzogenen Bank sitzend, am Rand des Waldweges. Ich mache die Musik aus und lausche dem Wald. Mein Atem beruhigt sich langsam wieder. Ich bin gerannt. Eine Schürfwunde an meiner Hand und der Riss in meiner Hose sagen mir, dass ich hingefallen sein muss. Ich habe Angst um mich. Mein Gott, bin ich kaputt. Ich brauche dringend jemand, der mich reparieren kann. Ich dachte Michael sei dieser jemand, der mich all die Scheiße meines Lebens mal kurz vergessen lässt, aber er macht alles nur noch schlimmer und das Chaos noch größer und undurchdringbarer.

Lange bleibe ich sitzen und irgendwann stehe ich auf. Ich muss los. Ich schaue mich um. Wo zur Hölle bin ich? Ich raufe mir verärgert die Haare. Wieso bin ich nur so hirnlos? Okay, jetzt ruhig bleiben. Ich schaue auf mein Handydisplay. Es ist schon 16 Uhr. Wie kann das sein? Und kein Netz. Shit. Ich schaue durch eine kleine Ritze zwischen den dicht stehenden Bäumen hindurch. Zum Glück liegen die Blätter auf dem Boden. Ich sehe die Felder und den Waldrand. Aber das ist ein ganz schönes Stück und ich befinde mich weit oben auf einem Berg. Ich hätte mein Hirn anschalten sollen, bevor ich kopflos losgerannt bin und mich ganz meinen verwirrten Gefühlen gewidmet habe. Okay, ruhig Blut. Ich laufe zügig los in die Richtung, die ich für richtig halte. Nach einer halben Stunde laufe ich immer noch. Wenigstens muss ich jetzt nicht mehr über mein verqueres Liebesleben nachdenken, sondern muss mich auf den Weg konzentrieren. Ganz langsam macht sich die Sonne auf den Weg gegen Erde und es wir dämmrig. Leise Panik kommt in mir auf. Was wenn ich nicht vor der Dunkelheit hier raus finde? Und ich muss ja auch noch zurück nach Hause. Ich humple leicht, da mein Knie weh tut. Ich darf nicht in Panik verfallen.

"Alles wir gut. Alles wird wieder gut. Alles wir gut." Immer und wieder wiederhole ich das. Erst flüstre ich, dann spreche ich lauter und irgendwann schreie ich es fast. Okay, die Panik ist nicht zu unterdrücken. Vielleicht hätte ich es alles anders machen können. Ich habe so viel falsch gemacht und ich bin eigentlich selbst an meinem ganzen Leid schuld. Ich schreie noch ein letztes mal heiser meinen ganzen Frust aus mir raus. Der Himmel verfärbt sich in ein leichtes Rosa. Ich kann nichts ändern, was geschehen ist, ist geschehen und ich werde es nie wieder rückgängig machen können. Ich atme tief durch und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich muss damit leben.

"Hey, kann ich dir helfen?", fragt eine Stimme hinter mir. Ich drehe mich ruckartig um. Vor mir steht ein Pferd. Ich schaue weiter nach oben und sehe dann auch das Mädchen, ungefähr in meinem Alter, von der die Stimme kam. Sie sieht mich besorgt an. Ich hoffe sie hat mich nicht schreien gehört. "Ich habe dich schreien gehört." Innerlich schlage ich mir einmal mit der flachen Hand gegen die Stirn. "Ist alles in Ordnung?" Ich verziehe das Gesicht zu einem falschen Lächeln und erwidre: "Ja." Eine der größten Lügen meines Lebens. Sie schaut mich ungläubig an. Sogar das Pferd legt den Kopf schief und scheint mir das nicht abzukaufen. Tapfer halte ich meine Maske aufrecht und grinse sie an. "Kannst du mir sagen, wie ich wieder aus dem Wald rauskomme?", frage ich sie. Sie lacht: "Du bist schon fast draußen. Nur noch hier geradeaus und dann um die Kurve da vorne. Dann siehst du das erste Haus." Ich komme mir dumm vor. Abschätzend schaut das Mädchen mich an. Dann sagt sie: "Soll ich dich mitnehmen?" Aha, ich sehe also schon so mitgenommen aus, dass man mir nicht mal mehr zumutet 200 Meter zu laufen. Kurz denke ich über das Angebot nach. Mein Knie schmerzt immer noch und meiner Hand geht es auch nicht besser. Irgendwie tut mir alles weh und ich frage mich verzweifelt, warum Fairytale heute noch kein einziges Mal etwas von sich hatte hören lassen. Ich nicke geschlagen und höre mich sagen: "Ja, danke." Sie zieht mich hinter sich auf das Pferd und treibt es kurz mit einem sanften Tritt in die Seite an. Langsam und gemächlich macht es sich auf. Es ist bequem. Ich halte mich an dem Mädchen fest und lasse mich von dem schaukelnden Gang des Tieres unter mir hin und her schaukeln. Man fühlt sich ein bisschen wie auf einem Sofa. Ich entspanne meine schmerzenden Füße ein wenig und vergesse eine kurze Sekunde alle meine vorherigen Gedanken. "Er heißt Janosch", sagt das Mädchen mit ihrer rauen Stimme und beugt sich ein wenig nach vorne um Janosch den Hals zu tätscheln. "Aha", sage ich nur. Ich bin gerade nicht wirklich für ein Gespräch zu haben. Sie sagt nichts mehr. Wahrscheinlich merkt sie, dass ich nicht reden will. Ich muss ein paar mal husten von dem vielen rumbrüllen eben. Schon nach fünf Minuten sehe ich das erste Haus. Aber es ist ein anderes Dorf. Ich werde auch hier einen Bus finden. Vor dem Dorf bleiben wir an einer stehen und steigen ab. Das Mädchen schaut mich an. "Dann vielleicht bis irgendwann mal wieder. Ich muss hier lang" sie zeigt in die andere Richtung auf eine Koppel. "Hat Spaß gemacht", meint sie und ich denke mir, dass ich sie nicht mag. "Danke fürs Mitnehmen", bedanke ich mich noch, bevor ich mich umdrehe und gehe. Meine Knie sind wackelig und ich bin müde und fühle mich ausgelaugt. Ich kann gar nicht an all meine Probleme denken, denn dafür habe ich keine Energie mehr. Nur eine einzige Frage schwebt kreisend in meinem Hirn rum. Warum singt Fairytale nicht? Ich ziehe den Kopf ein. Es ist kalt und bald ist die Sonne gänzlich verschwunden. Ich gehe die Hauptstraße entlang und finde bald eine Bushaltestelle. Ich bin in diesem Dorf noch nie in meinem Leben gewesen. Niederwald. Keine Ahnung, wo das ist. Aber irgendwie scheint mir der Name passend. Bald kommt auch schon ein Bus, aber bis dahin bin ich halb eingefroren und meine Nase fühlt sich an wie ein Eiszapfen. Schnell springe ich die Stufen hoch ins warme und will eine Karte kaufen. Aber die Busfahrerin schaut mich nur kurz mitleidig an und winkt mich dann durch. Auch gut. Erschöpft lasse ich mich auf den nächstbesten Sitz fallen und schmeiße meine Tasche neben mich. Es sind viele Stationen bis ich wieder da Heim bin, also schlafe ich nach kurzer Zeit ein.

Bald wache ich wieder auf. Nur noch ein Halt, dann muss ich raus. Fast hätte ich es verpasst. Mir ist mittlerweile wieder mollig warm. Ich will nicht wieder raus in die Kälte. Ich starre aus dem Fenster in die Dunkelheit des Abends. Es wird schon so früh dunkel. Der Winter kommt immer näher. Aber erst kommen die Herbstferien. Und der Urlaub in New York. Er kommt mir ganz gelegen. Vielleicht kann ich dort ein bisschen entspannen und ein wenig Abstand zu allem kriegen. Ich drücke den roten Knopf und der Bus hält. Ich steige aus. Aus Versehen renne ich jemanden rein. "Oh, Entschuldigung", murmelt er. Meine Augen weiten sich. Mein Herz setzt für einen Schlag aus. Endlich.

Who are you?Where stories live. Discover now