37. Ganz weit weg

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Fairytales Sicht:

Ich bin wütend. Wütend auf Michael, wütend auf Mia, wütend auf meine Mutter, wütend auf mich, wütend auf mein Leben. Ich könnte jetzt einfach so auf alles einschlagen. So eine Wut habe ich noch nie in meinem ganzen Leben verspürt. Ich fühle mich so verdammt hilflos in meinen Fesseln. Und wir fahren immer weiter nach Norden. Alles erscheint mir Aussichtslos. Wie soll ich je wieder zurück zu Mia kommen. Ich balle die Fäuste zusammen und knirsche mit den Zähnen. Das Radio läuft leise und ein Mann redet schnell auf finnisch. Ich verstehe kein Wort. Und dieses Gelaber macht mich noch hektischer. Meine Mutter ignoriert mich einfach die ganze Zeit. Wir fahren schon seit Stunden und ich weiß nicht wie lange wir noch unterwegs sein werden. Ich schmiede schon Pläne, wie ich sie am besten umbringen könnte... Aber das würde mich auch nicht weiterbringen. Aber mich quälen weiterhin die Fragen, was meine Mutter mit Aika und Raven zu tun hat. Oder haben die gar nichts damit zu tun gehabt? Es waren ja nur Vermutungen... In meinem Kopf flüstern Mias Gedanken. "Nur heute. Nur heute will ich ihn vergessen. Ich werde diesen Abend Spaß haben. Michael tut mir gut. Aber sollte ich ihm sagen, dass ich einen Freund habe? Nein. Irgendwie will ich wissen, worum es ihm geht bei unserer Freundschaft..." Ich stöhne auf und beiße die Zähne fest zusammen. Was tut sie da? Warum macht sie das? Will sie mir damit irgendetwas zeigen? Sie darf Spaß haben. Sie darf das alles mit uns gerne vergessen. Aber sie darf das nicht mit Michael machen. Nicht mit ihm! Das kann nur schief gehen. Oder auch nicht. Vielleicht mag sie ihn. Vielleicht mag sie ihn mit der Zeit noch ein bisschen mehr. Vielleicht wird sie mit ihm glücklich. Vielleicht würde sie mich dann bald vergessen. Das wäre gut. Dann ginge es ihr besser. Dann müsste sie nicht weiter leiden. Ich müsste dann zwar ohne ein Herz herumlaufen, da ich es an meine große Liebe verschenkt hatte und es nicht wiederbekommen habe, aber damit werde ich leben können. Damit werde ich klar kommen müssen. Wie aus Reflex fange ich an zu summen, um mich zu beruhigen. Blitzschnell ruckt die Hand meiner Mutter zu mir rüber und gibt mir eine schallende Ohrfeige. Mein Kopf flieg zur Seite. Dabei hat sie nicht einen Millimeter das Lenkrad verzogen. Sie schaut weiter starr geradeaus und meine Wange fängt an zu brennen. Ich öffne den Mund und singe. Ich lasse es darauf ankommen. Ich muss für sie kämpfen. Ich habe gelogen. Ich würe niemals überleben ohne ein Herz und ohne sie. Ich spüre ihren Herzschlag, wie er einen Moment aussetzt. Dann trifft mich ein heftiger Schlag ins Gesicht und ich spüre, wie meine Lippe aufplatzt und als ich mit der Zunge über meine Lippe fahre, schmecke ich das metallische Rot. Ich summe weiter. Sie reißt das Lenkrad herum und fährt an die Seite. Dann presst sie ihre Hand auf meinen Mund und Nase, sodass ich keine Luft mehr bekomme. Sie kramt in ihrer Handtasche und holt irgendetwas heraus. Sie nimmt ihre Hand aus meinem Gesicht und ich schnappe nach Luft. Ihr Gesicht zeigt keine Regung, es ist steinhart. Sie öffnet meinen Mund und stopft eine Pille hinein, dann setzt sie eine Wasserflasche an meine Lippen und ich muss sie wohl oder übel schlucken. Als sie die Flasche absetzt, japse ich erst einmal, ich habe mich verschluckt und bekomme einen Hustenanfall. Sie lässt den Motor wieder an und fährt wieder auf die Straße. Immer noch zeigt sie keine Gefühle. Was war das für eine Tablette?, frage ich mich, doch diese Frage erledigt sich, als ich ganz schläfrig wurde und alles um mich herum ganz schummrig und unscharf. Ich hasse dich, dachte ich noch. Schließlich war alles schwarz und ich konnte gar nicht mehr denken. 

Mias Sicht:

Wir sind auf einer Party. Michael hat mich dort hin genommen. Ich weiß nicht genau, was der Anlass für die Party ist und auch nicht, wer sie schmeißt. Aber das ist mir egal. Ich habe mir doch vorgenommen Spaß zu haben. Meiner Mutter habe ich geschrieben, dass ich bei Charlotte übernachte. Ich werde bei Michael schlafen. Er hat es mir angeboten. Also habe ich ja gesagt. Die Musik ist laut und ich kann nicht sagen, das wievielte Glas ich schon trinke. Ich habe Michael aus den Augen verloren. Keine Ahnung, wo er ist. Dann höre ich ihn auf einmal. Fairytale. Seine verzweifelte schöne Stimme klingt klar in meinem Kopf und ich lasse mein Glas aus der Hand fallen. Das Mädchen neben mir schaut mich kurz erstaunt und entrüstet an, aber als ich keine Reaktion zeige, wendet sie sich wieder dem Jungen ihr gegenüber zu. Fairytaile hat nur gesummt. Die Melodie klingt nach. Dann höre ich Wörter. "Nothing is over." Ich halte den Atem an. Er bricht aprupt ab. Mein Herz zieht sich schmerzlich zusammen. Ich fühle mich schuldig und die laute Musik drückt mir auf den Ohren. Ich werde hier erdrückt. Ich muss hier raus. Ich quetsche mich durch die Menschen, dorthin, wo ich den Ausgang vermute. Ich stolpere durch die offene Haustür. Auch hier sind überall junge Leute, die herumtorkeln und auch ich fühle mich nicht besonders sicher auf den Beinen. Es ist mittlerweile schon dunkel. Da summt er wieder. Ich verliere kurz das Gleichgewicht und stütze mich an der Hauswand ab. Er verstummt wieder. Diesmal endgültig. Ich seufze auf und lasse mich ins Gras sinken. Ich will hier weg. Am aller liebsten würde ich in seine starken Arme sinken, aber er ist unerreichbar. Meinen Kopf vergrabe ich in meinen Händen. Mir ist übel. Ich spüre, wie mir heiße Tränen übers Gesicht laufen. Auf einmal fährt mir beruhigend eine Hand über den Rücken. Ich schrecke auf und erkenne, dass Michael neben mir sitzt. Auch er ist betrunken, hat aber noch einen bewundernswerten Gleichgewichtssinn. Fast ohne sich abzustützen rappelt er sich auf und hilft mir hoch. "Willst du weg?", fragt er ein bisschen undeutlich. "Ja", antworte ich mit schwerer Zunge. Ganz weit weg. "Okay." Er nimmt mich an der Hand und wir verlassen das Grundstück. Wir laufen durch die Straßen und ich muss mich ein Mal übergeben. Ich kann nicht verstehen, warum manche ihren Kummer im Alkohol ertränken. Mir geht es danach nur noch schlechter.

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