54

13.7K 471 137
                                    

>>Tränen reinigen das Herz. <<

-Fjodor Michailowitsch Dostojewski-

Der schlimmste Punkt meiner Trauer und der Moment, in dem ich erst komplett verstand, dass mein Bruder weg war und nie wiederkommen würde, war bei der Beerdigung.

Breits bei der rede des Priesters musste ich mich an Lilians Hand klammern und als ich dann noch etwas sagen sollte, brach ich zusammen, wie unmittelbar nach Elians Tod im Krankenhaus. Ich schrie nicht und schlug auch nicht um mich, aber ich sank auf die Knie und fragte mich immer wieder flüsternd, was passiert war, wie er mich nur verlassen konnte.

Aber Kian trat zu mir, half mir auf, strich mir sanft die Tränen von der Wangen und sah mich eindringlich an „Du schaffst das" murmelte er und lächelte mir aufmunternd zu.

Ich erwiderte den Blick mit großen runden Augen und nachdem ich mich beruhigt hatte, nickte ich schließlich . Doch als Kian mich losließ und wieder zurücktreten wollte, hielt ich ihn zurück und nahm seine Hand.

Er kam zurück zu mir und drückte die Hand, wie zur Bestätigung, dass er mich nicht alleine lassen würde.

Ich drehte mich langsam zu den anderen Trauergästen, von denen die meisten meinen Zusammenbruch mitleidig mit angesehen hatten, vielen standen Tränen in den Augen.

„Mein Bruder," fing ich mit zitternder Stimme an und holte tief Luft „Mein Bruder, war der schönste Mensch den ich kenne. Nicht nur von seinem äußeren." Ich mühte mir ein schiefes Lächeln ab, was von vielen traurig erwidert wurde „Sondern auch, weil er immer für mich da war. Er war der beste große Bruder, den man sich hätte wünschen können. Er hat mich vor allem beschützt und er hat mich so sehr geliebt, wie es kein anderer Mensch je zu tun vermag." Ich wischte über meine Augen und suchte mit dem Blick, die Menge nach Logan ab. Er stand in der zweiten Reihe und sah mich an, ein liebevoller Zug um die Lippen. „ich erinnere mich an eine Situation, als ich ungefähr sechs war. Wir haben draußen gespielt, zusammen mit Logan und Logan hat mich geschubst. Nicht mit Absicht, aber ich bin hingefallen und habe geweint. Mein Knie blutete. Elian war so wütend auf Logan gewesen, dass er sich auf ihn gestürzt hat. Er hat geschimpft und Logan gedroht, wenn er mir noch einmal weh tat, dann wäre er dran." Ich lächelte leicht. 

„Er selbst war damals erst acht und wenn ich jetzt daran zurückdenke, dann könnte ich lachen, bei der Vorstellung wie lustig es von außen gewirkt haben musste, aber ich weiß, dass Elian es ernst gemeint hat. Elian war jemand, der sein Wort hielt und er tat alles, damit es mir gut ging. Er hat mir beigebracht bis hundert zu zählen, gab mir immer das letzte Stück torte ab und er hat mir sogar das Fahrradfahren beigebracht. Er hätte alles in seinem Leben geopfert, um für mich da zu sein und ich glaube..." meine Stimme brach „Ich glaube, er hat immer Angst gehabt vor dem Moment, in dem er mich gehen lassen musste. Der Moment, in dem er nicht mehr für mich würde, da sein müssen..." eine Pause, um wieder Luft zu holen und das Gefühlschaos in mir zu beruhigen.

 „Aber wir beide haben nicht gedacht, dass dieser Moment so schnell kommen würde. Ich wollte ihm so viel sagen. So viele Sachen zwischen uns sind unausgesprochen und ich bereue, dass ich ihm nicht viel öfter für die Dinge gedankt habe, die er für mich getan hat. Dass ich ihm nicht oft genug gesagt habe, wie sehr ich ihn liebe." Ich sah in die Runde „Und jedem hier. Jedem rate ich, es anders zu machen. So viele Chancen lassen wir verstreichen und so viel sagen wir nicht, weil wir Angst haben, aber wir müssen immer daran denken, dass jeder Moment zählt und dass es immer zu spät sein kann."

Ich musste wieder eine Weinpause einlegen. Mein Blick fiel auf meine Eltern. Meine Mom, die blass war wie eine Leiche und mein Dad, der mit der Zeit langsam wirkte, als ginge es wieder bergauf. Heute sah er etwas mitgenommener aus, aber das war normal. Es war normal und es war okay. Ich lächelte die beiden an, dann sah ich auf meine Hände. Was ich jetzt sagte, stand nicht auf dem Zettel für die Trauerrede, sondern kam aus meinem Herzen. Es waren Dinge, die ich nicht vorgehabt hatte zu sagen, die aber einfach ausgesprochen werden mussten. Ich sprach nicht mehr ÜBER Elian, sondern MIT ihm.

„Damals bist du gegangen, um ein Pflaster für mich zu holen Elian..." murmelte ich und mein Blick richtete sich jetzt auf den geschlossenen Sarg „Und ich habe geweint und dich gebeten, mich nicht zu verlassen." Ein Schluchzer kämpfte sich meine Kehle hoch und ich unterdrückte ihn mit einem seltsamen Geräusch „Du hast gesagt, dass du mich niemals verlassen würdest. Niemals." Und dann hob ich meinen Blick in den Himmel, als könnte ich Elians Gesicht dort in den Wolken schweben sehen. Es war viel zu schönes Wetter für so einen traurigen Tag.

„Du hast mich angelogen!" rief ich „Du hast gelogen, als du gesagt hast, du würdest für immer dableiben!" Ich weinte wieder haltlos „Aber du hast mich verlassen! Du hast mich alleine zurückgelassen! Warum bist du einfach gegangen? Du hast es versprochen!" ich klammerte mich an das Sprechpult und an Kians Hand, die meine immer noch umfasste. „Du hast es versprochen!" diese worte flüsterte ich nicht mehr, sondern ich schrie sie hinaus in den Himmel, raus in die Welt. Zu Elian!

Ich zitterte. Schluchzer schütteten meinen Körper.

Kian nahm meine andere Hand, legte dann eine Handinnenflache an mein Gesicht und zwang mich, ihn anzusehen. Schmerz stand in seine Augen, ich glaube, da rollte sogar eine Träne über seine Wange, aber ehe ich genau darauf achten konnte, zog er mich schon in seine Arme.

Während ich mein feuchtes Gesicht an seine Brust drückte, hielt er mich fest und führte mich, nein, trug mich eher, an den Rand der anderen Leute. Es war totenstill um uns geworden, aber es interessierte mich nicht. Ich dachte nur an das Versprechen, dass Elian mir gegeben hatte. Und daran, dass er gegangen war und mir nichts blieb. Nichts außer dem Schmerz und der Trauer und der Frage, wie ich ohne ihn weitermachen sollte.

my brother's enemy is my best friend's brotherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt