XXXV.

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„Unfassbar."

Henry Kingston hielt den Brief seiner Tochter in der Hand, als seine Augen noch einmal über die geschriebenen Zeilen flogen. Seit mehr als sechs Tagen suchten er und sein Bruder nach ihr; Henry hatte die Marine einbezogen, nur um nun einen Brief zu erhalten, der ihm erklärte, dass seine Tochter in einer Piratencrew Schutz gefunden hatte. Alleine bei dieser Information, rutschte sein Herz in die Hose. Aber der Mann beruhigte sich wieder, als Adelaide ihm mitteilte, wer alles bei ihr war. Sie war in Sicherheit, bei Piraten. Obwohl der Satz an sich schon paradox klang, wusste Henry, dass seiner Tochter nicht passiert war.

Dennoch waren die darauffolgenden Zeilen keine, die ihn abends ruhig schlafen ließen. Adelaide erzählte von Captain Hainsworth und über dessen Lebenswandel. Natürlich kannte Henry ihn – die Hainsworth Familie waren schon immer mit ihnen befreundet gewesen. Jeder in Highborough kannte den verschollenen Gentleman und das Drama um diese Familie. Dass er sich nun aber als Piratenkapitän bezeichnete und im Auftrag der englischen Krone französische Schiffe kaperte, war eine Mitteilung, die einen bitteren Nachgeschmack in Henrys Mund hinterließ. Hinzukam, dass Adelaide nach Hilfe fragte, nicht nur für ihre Heimreise und die ihrer Freundin, sondern für die Piraten bei denen sie gerade auf Guernsey verweilten.

Er war unsicher was seine Tochter damit erreichen wollte, verstand es aber auch nach einigen Sekunden des Nachdenkens. Adelaide war wie ihrer verstorbene Mutter – Beide trafen Entscheidungen mit ihrem Herzen.

Ein leises Klopfen an der Tür brachte ihn aus seinen Gedanken.

„Herein", murmelte er und blickte zum Butler, der in den Raum eintrat.

„Ihr Bruder und Miss Bennet bitten um ein Gespräch."

„Lassen Sie beide herein", gab er seinem Butler zurück. Seit dem Verschwinden der zwei Freundinnen, war Olivia Bennet ein tagtäglicher Gast im Haus. Jetzt, da er ein Schreiben seiner Tochter in den Händen hielt, konnte er auch Miss Bennet beruhigen – obwohl das davon abhing, wie sehr sie die Situation mit den Piraten als beruhigend empfinden würde.

„Irgendetwas neues?" fragte Fredrick seinen Bruder, als er mit Olivia ins Zimmer kam.

„Ein Brief."

Mit großen Schritten marschierte Frederick zu Henry und schoss diesem einen schockierten Ausdruck entgegen. „Eine Entführung? Wollen sie Lösegeld?"

Henry schüttelte seinen Kopf. „Nein, es ist ein Schreiben von Adelaide selbst. Sie hat mir die Auskunft ihres Verstecks mitgeteilt und darum gebeten nach Hause gebracht zu werden. Aber sie bittet mich darum den Piraten zu helfen."

„Helfen? Warum?" sprach Olivia Bennet aufgeregt dazwischen, die befürchtete, dass ihre Nichte Gabriella irgendetwas ausgeheckt hatte.

„Mr Hainsworth ist der Kapitän der Crew und vor einiger Zeit wurde der ursprüngliche Captain, sowie ein wichtiger Staatsmann aus England von Barbaresken entführt."

„Hainsworth?" Fredrick ließ sich auf einen der Stühle im Bürozimmer nieder. „Der totgeglaubte Hainsworth . . . Bei ihm kann Adelaide nur in Sicherheit sein", vermerkte er und wusste selbst nicht, ob dies ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Er zog die Augenbrauen zusammen bevor er fortfuhr, „Aber warum will sie dem Captain helfen? Das ist doch nicht unsere Angelegenheit."

Henry blickte Olivia mit einem wissenden Ausdruck an; nur schien sie nicht zu bemerken, was er andeuten wollte.

„Es scheint als ob der Halbbruder von Gabriella Bennet der entführte Kapitän ist."

„W-was?" flüsterte Olivia, die die Wand abtastete, um sich kurz zu stützen.

„Sie hat Ihnen eine Notiz gewidmet."

Mit leicht zitterigen Beinen ging die Dame auf Henry zu und entnahm den kleinen Zettel, der sich in dessen Hand befand.

Es vergingen einige Sekunden, bis Olivia sich hinsaß und das Stück Papier nach einem kurzen Blick wieder zusammenfaltete.

„Und?" fragte Frederick, der sich Sorgen machte und neugierig war.

„Sie weiß es", murmelte Olivia, die die Erkenntnis für sich selbst aussprach. Mehr sagte sie auch nicht mehr, als sie sich entschuldigte und den Raum wieder verließ.

Keiner der beiden Männer wollte näher auf das Gesagte von Olivia eingehen.

„Wir werden auf alle Fälle die Marine zu der Insel beordern. Frederick, ich möchte, dass du Adelaide und ihre Freundin wieder nach Hause begleitest", schlussfolgerte Henry bevor ihm ein Seufzer entglitt, der andeutete, dass der Herr mit seinen inneren Gedankenstrang zu kämpfen hatte. „Ich werde dafür sorgen, dass Adelaides Bitte erfüllt wird . . ."

„Diesen Piraten zu helfen", beendete Frederick den Satz und trug ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht. Natürlich konnte Henry seiner Tochter diesen Wunsch nicht abschlagen. Sie würde auch nicht nachgeben. Zudem hatten diese Piraten Adelaide und Gabriella Schutz angeboten – obwohl Frederick sich sicher war, dass Hainsworth darauf bestand den zwei Frauen zu helfen.

„Nun ja . . . Irgendjemand muss es beenden. Zudem mag ich diese Barbaresken nicht. Zu viel haben sie geplündert und zerstört . . . Und von den Franzosen will ich gar nicht anfangen."

Es war eine Ansage, und Henry wollte auch nicht offen sagen, dass er Mr Hainsworth ebenso mit dieser Aktion helfen wollte. Dass es so weit kommen musste, und Adelaide in einer solchen Situation sein würde, war schon schlimm genug. Und Henrys Ehefrau würde über diese Tatsache nicht glücklich sein. Sie würde ihm vorwerfen, was für ein Skandal sich entwickeln würde, wenn Adelaide zurückkehren würde. Die gesamte englische Gesellschaft würde sich das Maul über die Familie zerreißen – als ob sie das nicht schon machen würde.

„Wir werden sofort abreisen", verkündigte Frederick, bevor er seinen Bruder im Büro alleine ließ und hoffte, dass er mit der gegebenen Information seine Nichte aus der beklemmenden Situation bringen konnte.

Olivia Bennet war außer Atem, als sie in ihr Schlafgemach eintrat. Es war der einzige Raum des Hauses, der komplett unverschont von dem Angriff blieb. Die Reparaturen ihrer Schneiderei hatten schon begonnen, dennoch musste sie feststellen, dass die Anzahl der Aufträge ihrer Kleider zurückgegangen war. Ob es wegen der beschädigten Mauer oder die Abwesenheit ihrer Nichte war, konnte Olivia nicht sagen.

Bei dem Gedanke an Gabriella lehnte Olivia sich an der Mauer, bevor sie zu Boden rutschte. Die Nachricht, dass Gabriella über ihre Mutter Bescheid wusste, erschrak sie. Sie hatte Emilia nie zuvor gesehen, sondern immer nur über sie in Alexanders Briefen gelesen. Dennoch war sie auch froh, dass sie Gabriella nichts mehr verschweigen musste – dennoch die Konfrontation musste erfolgen.

Sie hatte sich solche Sorgen um die Rothaarige gemacht. Nun aber war sie im Wissen, dass Gabriella mit ihrer Freundin auf Guernsey war, bei Emilia – etwas das sie noch immer für unvorstellbar hielt. Als ob das Schicksal gewollt hätte, dass sich Beide finden und treffen würden.

Ein kleines Lächeln flog über ihr Gesicht als Olivia aufstand und zur Fenster hinaussah. Die Streitkräfte der britischen Armee waren präsent und bewachten jeden Winkel. Der Notstand war nach dem französischen Angriff gegen die englische Küste ausgerufen worden. Um Olivias Schneiderei und andere beschädigte Einrichtungen vor Gaunern zu schützen, hatte man auch Aufpasser engagiert. Diese waren allerdings tagsüber damit beschäftigt vorbeigehenden jungen Frauen den Hof zu machen. Wenn Gabriella hier wäre . . . Sie würde diesen Männern ihre Meinung sagen und zwar so dass es jeder mitkriegen würde.

Olivia vermisste ihre Nichte sehr und würde sie trotz allem sofort in die Arme schließen, wenn sie nach Hause kommen würde.
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[A/N: Sorry, dass ich erst jetzt ein neues Kapitel poste, ich habe irgendwie total verpasst am Sonntag zu updaten oO. Ich wollte mal einen kleinen Szenenwechsel in der Geschichte mit diesem Kapitel haben – insbesondere da sich die Familien der Betroffenen sorgen. ]

Die Perle der SeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt