Medaillenblut

By UClara

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Ihre Mutter ist tot. Ermordet worden. Ihr Vater spricht nicht mehr. Ihre beste Freundin ist seit einer Woche... More

Vorwort
Prolog
1. Kapitel
2.Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
35. Kapitel
Epilog
Nachwort

34. Kapitel

74 15 11
By UClara

„Romy", flüsterte Veronika und sie sah zu ihr herüber. Emilias rechter Arm hing verkrampft über ihrer Schulter.

„Was ist?"

„Romy", wiederholte sie. „Romy, ich vertraue dir. Du bist ein guter Mensch."

„Fräulein Birnbaum!", schrie die Fledermaus in diesem Moment plötzlich auf. Er hatte sie wiedererkannt. „Was machst du denn hier?" Vor dem du machte er für den Bruchteil einer Sekunde eine Pause, so als hätte er sich kurz überlegt, sie zu siezen, sich aber blitzschnell dagegen entschieden.

Ich bin ein guter Mensch?

Aber ein guter Mensch muss doch fühlen können, oder? Ich habe meine Gefühle verloren.

Bin ich ein guter Mensch?

Was macht einen guten Menschen überhaupt aus?

Während die Fledermaus Fragen in die Nacht bohrte und Veronika knappe Auskünfte gab, wurden sie zurück in die Halle geführt. Er begann wieder zu verkünden, was für ein großartiger Mann er jetzt war, und sang regelrechte Lobeshymnen auf sich selbst.

Machen Gefühle einen guten Menschen aus?

Heißt das, ich bin ein schlechter Mensch?

Ich möchte kein schlechter Mensch sein.

Ein guter Mensch handelt. Ein guter Mensch lässt sich nicht wie eine Marionette behandeln.

Ein guter Mensch kämpft. Für seine Überzeugung.

Er ist seiner Überzeugung treu. Er ist sich selbst treu.

Stimmt das?

„Ich spüre noch nichts. Ich dachte, ich spüre eine deutliche Veränderung nach dem Ritual."

„Das kommt noch. Das passiert nicht auf einen Schlag", versuchte es Tino mit beruhigender Stimme.

Warum sagten sie ihm nicht einfach, dass er sein Leben auf einer Lüge aufgebaut hatte? Es wäre doch nie so weit gekommen, wenn sie ihm das sofort klargemacht hätten.

Sie hatten Angst. Ganz einfach. Sie wollten ihn hinhalten, hofften auf ein Wunder. Sie hatten Angst vor seiner Reaktion, wenn er die Wahrheit erführe. Eine Lüge aufrecht zu erhalten war einfacher, als der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.

„Es darf niemand wissen, wie das Ganze hier vonstatten gegangen ist", überlegte er jetzt. „Jeder einzelne von euch würde sofort zur Polizei rennen, wenn er die Möglichkeit dazu hätte."

Die Tür wurde verrammelt. Sie fiel mit einem entschiedenen Knall ins Schloss, der jedem Anwesenden sofort klarmachte, dass sie in der Falle saßen.

„Ich habe etwas für euch", sagte die Fledermaus jetzt. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Es wurde immer breiter und Romy wünschte sich nichts sehnlicher, als dass es nicht zu einem Lachen werden würde. Ihr Wunsch wurde mit Füßen getreten, denn als er seine Hand in die Innentasche seines Mantels steckte und etwas hervorholte, brach das kranke Lachen wieder aus ihm heraus.

Klein. Silbern.

Der Stoff, aus dem Alpträume gemacht werden.

So geschmeidig. So schön.

Tödlich.

Untermalt mit der Irrsinnsmelodie des Lachens.

„Ich muss das hier jetzt leider für euch beenden. Für euch sieben. Ihr versteht bestimmt, dass ich es nicht verantworten kann, Mitwisser am Leben zu lassen."

Du meinst also, dass ein guter Mensch handelt?

Dann sind wir also alle keine guten Menschen mehr.

Romy sah sich um. Die Anhänger der Fledermaus hatten sich in einer Art Kreis um sie herum positioniert. Veronika saß neben Emilia auf dem Boden, die ihren Fuß in der Hand hielt und langsam vor und zurück wippte. Tino und Kelly standen Hand in Hand nebeneinander. Alan stand in der Nähe der Tür. Er stand ganz normal da, aber irgendetwas störte sie an ihm. Er war nicht mehr angespannt, bereit loszurennen, bereit zur Flucht. Er hatte seinen Kampfgeist draußen gelassen. Während die Fledermaus unruhig auf und ab ging, stand Michael wenige Meter neben ihr einfach nur da. Erstarrt.

Warum handelt denn niemand?

Haben wir alle aufgegeben?

Irgendwann muss jeder aufgeben. Du hast das eben früher als die anderen getan.

Ist das so?

Die Waffe glänzte so schön im Licht der Lampen. Wie kann etwas Gefährliches so schön aussehen?

„Mit wem fangen wir an? Der Krüppel zuerst?", er lachte wieder und betrachtete sie sorgfältig. Emilia heulte auf. „Komm schon. Bei dir ist es am wenigsten schlimm. Ich erlöse dich von deinen Schmerzen."

„Nein!", schrie Veronika, stand auf und stellte sich schützend vor sie.

„Ich mag es nicht, wenn man mir widerspricht", klärte er sie auf. „Komm zu mir."

Sie rührte sich nicht.

„Komm her, Veronika Birnbaum. Ich allein habe in der Hand, wie viele Sekunden dein jämmerliches Leben jetzt noch andauert."

Sie ging los. Schritt für Schritt dem Lauf der Pistole entgegen.

Es hatte lange gedauert, aber jetzt wurde Romy endlich klar, wie bitter ernst die Fledermaus es meinte. Wie leer seine Seele, wie abgestorben sein Herz und wie verzweifelt sein Wunsch nach Anerkennung war. Nach dem Leben aus seinen Vorstellungen.

Vorhin noch im Raum mit dem Kessel hatte sie sich ihm überlegen gefühlt. Sie hatte Emilias Angst nicht nachvollziehen können. Sie hatte geglaubt, nach dem Ritual hätten sie einfach wieder gehen können und alles wäre gut geworden.

Es war kein Schuljungenscherz mehr. Kein Spiel: Wer trägt am schnellsten alle Medaillen zusammen? Es war der gefährlichste Balanceakt auf dem Drahtseil zwischen Leben und Tod geworden, den sie sich vorstellen konnte.

Bin ich ein guter Mensch?

Veronika ist ein guter Mensch.

Sie hat widersprochen.

Zeichnet die Kraft zum Widerspruch einen guten Menschen aus?

Ein Mensch ist nichts ohne seine Gefühle.

War ich mal ein guter Mensch?

Irgendetwas muss gut an mir sein.

Emilia. Alan. Veronika.

Irgendetwas hatte ich an mir, dass diese Menschen mir vertrauen.

Emilia hat mir zugehört. Sie war für mich da. Ausnahmslos. Sie hat an mich geglaubt. Bis zum Ende. Auch als die Männer in der Rosengasse versucht haben, ihr Lügen über mich zu unterbreiten. In den letzten Tagen und Stunden hat sich etwas in die zarten Ritzen unserer Freundschaft geschoben, aber daran bin allein ich schuld. Sie hat mich nicht aufgegeben. Das würde sie niemals tun.

Alan hat wegen mir Olympia geschaut. Er saß wegen mir im Schnee auf dem Spielplatz. Aus irgendeinem unverständlichen Grund war es ihm wichtig, dass ich ihm vertraue. Er hat mir seine gesamte Lebensgeschichte erzählt. Alan vertraut mir.

Veronika war in der Umkleide bei Olympia jemand anderes, als sie jetzt ist. Sie wollte meine Medaille nicht. Sie hat ihr alles bedeutet, aber sie hat sie abgelehnt. Veronika glaubt, dass ich ein guter Mensch bin. Veronika vertraut mir.

Würden Menschen einem schlechten Menschen vertrauen?

Vermutlich schon.

Aber das ist es nicht.

Ich will kein schlechter Mensch sein. Das ist es. Ich will das nicht.

Ich möchte jemand sein, dem man vertrauen kann.

Ja, das ist es.

Und zwar nicht nur der Wille, gut zu sein. Nein, es ist die Entscheidung.

Die Entscheidung für mein Gewissen, die Entscheidung für mein Selbst.

Die Entscheidung, richtig zu handeln.

Veronika war bei der Fledermaus angekommen. Er drückte ihr die Waffe an die Stirn.

Und das war der Moment, in dem endlich Romys eingefrorene Gefühle auftauten und wieder ihren Geist übernahmen.

„Nein!", brach es aus ihr heraus. Der Staudamm war gebrochen und die Gefühle schwammen im Strom ihrer Stimme mit.

„Wenn sich Macht so anfühlt, dann habe ich richtig gehandelt."

„Lassen Sie sie los. Sie hat nicht damit zu tun. Sie ist doch nur durch einen Zufall hier."

Alle anderen schwiegen. Sie hatten gekämpft und schließlich aufgegeben. Romy hatte zuerst aufgegeben und jetzt, jetzt endlich kämpfte sie wieder.

„Sei still. Ihr werdet sowieso alle sterben. Das Einzige, das sich noch ändern kann, ist die Reihenfolge."

„Nein!", schrie Romy wieder und zum ersten Mal, seit sie Emilia in der Rosengasse wiedergefunden hatte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie wusste nicht, warum oder was, aber irgendetwas sahen sowohl Emilia als auch Alan und Veronika in ihr.

Alan und Veronika hatten sich aus ihrem gewohnten Umfeld reißen lassen. Aus irgendeinem Grund, hatte Romy den beiden Kraft gegeben. Irgendetwas hatte sie bei ihnen auslösen können. Das konnte nicht völlig grundlos sein, deshalb musste sie jetzt stark sein. Deshalb musste sie jetzt etwas unternehmen, etwas ändern, etwas erreichen.

„Lass es gut sein, Romy", sagte Veronika mit ruhiger, beinahe sanfter Stimme.

„Nichts ist gut!" Die Tränen lösten sich und liefen ihr über das Gesicht. Warum war Veronika so stark und sie nicht?

„Doch. In den letzten Stunden und den letzten Tagen habe ich mich selbst gefunden. Ich habe meinen geliebten Cousin wiedersehen dürfen und ich habe dich kennengelernt. Ihr habt mir das gezeigt, was ich in mir verloren hatte, das ist gut.

Ich bin keine Sportmaschine. Der Sieg ist nicht das Wichtigste, das man erreichen kann. Der Weg ist das Entscheidende. Bei mir war das nie so und ich erkenne, dass das nie das war, was ich wollte. Mit der Zeit habe ich das Turnen hassen gelernt und ihr habt mir, auch wenn ihr es vielleicht nicht wisst, geholfen, davon loszukommen. Davon und von meinen Eltern. Ich habe selbst die Kraft gefunden, ihnen den Rücken zuzukehren und die zu sein, die ich sein will. Ich habe selbst die Kraft gefunden, unabhängig zu sein. Die einzige Tat in meinem Leben, auf die ich stolz bin.

Es ist gut, weil ich in dem Wissen sterben werde, herausgefunden zu haben, wer ich einmal mit Alan und David war und wer ich jetzt wieder bin. Ich danke euch dafür."

„Das ist ja wirklich rührend, nur leider bringt dir dein ach so wertvolles Wissen jetzt nichts mehr." Die Fledermaus lachte wieder, aber Veronika beachtete ihn nicht.

„Und ich vergebe meinen Eltern." Sie sprach jetzt ganz leise und sah dabei nur Romy an, der stumme Tränen auf ihren Pullover tropften. „Sie haben zwar nie das Ich geliebt, das ich liebe, aber für das andere haben sie alles getan. Das war zwar nie das, was ich wollte..." Sie verstummte und sah zu Boden. „Aber das reicht mir." Sie sah wieder zu Romy auf und der Anflug eines Lächelns erschien auf ihrem Gesicht. „Es ist gut, weil ich glücklich bin. Sag ihnen, dass ich..."

„Schluss jetzt", unterbrach die Fledermaus wütend. Seine Augen funkelten vor Zorn.

Er riss ihren Kopf brutal zur Seite und drückte dann ab. Es gab einen Knall, wie wenn ein Feuerwerk explodierte. Die Kugel ging durch Veronikas Gehirn hindurch und krachte fünfzehn Meter hinter ihr noch gegen die Wand. Sie fiel herunter und zog auf der weißen Tapete eine Blutspur hinter sich her.

Veronika knickte ein und fiel auf die Seite. Aus ihrer Stirn lief Blut über ihr Gesicht in ihre Augen, ihre Haare und verteilte sich auf dem Boden um sie herum wie ein See. Sie starrte Romy aus offenen, roten, leeren Augen an.

Romy hörte einen gellenden Schrei, bis sie sah, dass ihr Vater auf sie zugerannt kam, sie in die Arme nahm, ihr über den Rücken streichelte und sie merkte, dass es ihr eigener Schrei war. Sie konnte ihren Blick einfach nicht von Veronikas toten Augen und dem blutenden Loch in ihrer Stirn losreißen.

Als sie es endlich schaffte, sah sie Alan, der Veronika ebenfalls anstarrte, mit nassem Gesicht und einem so schmerzverzerrten Blick, dass er unglaublich hässlich aussah. In diesem hässlichen, blutenden Blick spiegelte sich der Horror, spiegelte sich die Leiche und dort erkannte sie es und es schlug ihr wie eine Faust ins Gesicht: Die tapferste junge Frau, die Romy je getroffen hatte, die im Gegensatz zu ihr das Turnen hasste und dennoch in einem letzten Akt der Güte ihren Eltern vergeben hatte, lebte nicht mehr.


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