Wir hatten noch zwei ganze Tage, bis das Elbenheer vor der Tür stehen würde. Zwei Tage, die Kíli und ich so gut wie möglich nutzen wollten. Am Morgen des dritten würden die ersten Anflüge der Schlacht in der Luft liegen.
Eigentlich war die Aufgabe aller Zwerge, Bilbo und mir (wobei ich ja sowieso als Ehrenzwerg galt), weiter nach dem Arkenstein zu suchen und die Rüstkammer zu ordnen, Rüstungen und Waffen zu putzen und für den Gebrauch bereit zu machen.
Das hatte Dwalin auf Thorins Befehl hin beim Frühstück des vierundzwanzigsten Oktobers verkündet, der Morgen nachdem die Mauer errichtet worden war.
Kíli und ich aber hatten uns gleich nach dem Essen einfach weggeschlichen. In unserer Wohnung würde uns jeder sofort finden, daher war unser Plan, den Berg zu erkunden. Dabei so wenig wie möglich auffallen, wenn nötig wegrennen und verstecken. Unsere letzten Tage des Friedens würden wir uns nicht nehmen lassen, nicht von unserem wahnsinnigen König, der gleichzeitig auch noch unsere Vaterfigur war. So gesehen war das ein bisschen fucked up, dass wir dieselbe Vaterfigur hatten. Eeegal.
Unsere Erkundungstour begann auf dem Gang, auf dem sich auch unsere Wohnung befand. Hier waren geschlossene Wände und Böden, was man von den öffentlichen Plätzen der Stadt im Berg kaum behaupten konnte.
Hand in Hand spazierten wir den langen Korridor entlang, bis er sich wieder öffnete; am Ende war er doch mit dem komplizierten Brücken- und Treppennetz verbunden, die alle sehr geeignet für Suizidversuche schienen.
Vorsichtig beugte ich mich über den Abgrund und sah mehrere hundert Meter in die Tiefe. Vielleicht waren es auch Kilometer; mit Längenschätzungen kannte ich mich nicht so aus.
Zumindest ging es so weit runter, dass man den Boden schon nicht mehr sehen konnte. Auf den näheren Etagen brannten hier und da noch ein paar Fackeln, aber weiter unten war alles dunkel. Diese Hallen hatte seit über hundert Jahren niemand mehr betreten, und diese kleine Erkundungstour war wirklich eine der besten Ideen, die Kíli in letzter Zeit gehabt hatte. Der Fakt, dass wir gerade wirklich vor unseren königsfamiliären Pflichten flohen, machte das ganze noch aufregender.
Beschützend zog Kíli mich vom Abgrund weg.
„Lass uns nicht früher als nötig in die Dunkelheit stürzen", sagte er leise.
Die erste Hälfte des Tages verbrachten wir damit, einfach nur höher zu steigen. Etliche endlose Treppen kletterten wir hinauf, bekamen dafür aber auch die besten Sehenswürdigkeiten zu Gesicht.
Da war ein riesiger Marktplatz überseht mit kunstvoll gearbeiteten Säulen. Hier und da standen noch in Eile verlassene Verkaufsstände.
Zum Glück waren wir schlau genug gewesen, auf dem Weg jeder eine Fackel einzusammeln. So leuchteten wir unseren Weg über den riesigen Korridor, der architektonisch noch an die säulenbedeckte Halle von Moria erinnerte. Hier war die Baukunst aber noch weiter fortgeschritten, und statt nur in Stein gemeißelte Runen gab es hier auch silberne und goldene Ornamente, die die Säulen schmückten.
Von einem Stand weiter weg rief Kíli nach mir, ich eilte zu ihm und musste bei dem Anblick der zumeist gut erhaltenen Waren staunen.
Ohne Zweifel musste das mal ein Schmuck- und Kristallstand gewesen sein.
Nicht nur kunstvolle Ringe gab es hier, sondern auch antike Piercings, Haarschmuck, Ketten und Kristalle wie Rosenquarz, Bergkristall, Amethyst und Mondstein, um nur ein paar zu nennen.
Kíli schien sehr interessiert an den kleinsten Kristallen zu sein, die die perfekte Größe für einen Ring hatten.
„Wir können zwar nicht in die großen Schmieden, weil wir da definitiv gesehen werden würden, aber ich weiß noch, dass Thorin uns früher von kleinen Schmuckschmieden erzählt hat. Die sollten irgendwo über dem Marktplatz sein."
„Willst du etwa die schöne Tradition von wegen Ring selbst schmieden befolgen?", fragte ich mit einem verliebten Lächeln.
„Such dir was aus", erwiderte Kíli und deutete mit leuchtenden Augen auf die große Auswahl Kristalle.
Ich drückte ihm grinsend einen Kuss auf, ehe ich mich ziemlich schnell für einen Mondstein entschied.
„Aber dann sollst du auch einen Ring kriegen! Ist ja sonst langweilig", sagte ich.
Wählerisch ließ Kíli seine Finger über den Steinen tänzeln, bis er sich einen kleinen Sonnenstein nahm.
„Wow, was eine Überraschung", kommentierte ich unsere Wahl lachend.
*
„Und du kennst dich aus mit Schmieden, ja?"
Wir hatten nicht so lange für das Finden der Schmuckschmieden gebraucht, wie erwartet. Zwar musste es wohl schon wieder auf Nachmittag zugehen, aber morgen war ja auch noch ein Tag. Der letzte friedliche Tag.
Egal. Wir waren hier, um den Sorgen vor der Schlacht zu entfliehen, also schüttelte ich die Gedanken ab und legte schonmal meine Fackel auf den Boden.
„Nicht sehr detailliert, ich bin schließlich Bogenschütze. Aber es wird reichen. Wir suchen uns einfach eine Form aus, jeweils ein Klümpchen Metall und dann passt das."
Erst tauschten wir unsere Kristalle, dann begann die Suche; schließlich war die Tradition, einen Ring für den Verlobten zu schmieden. Nicht, beide Verlobten schmieden ihren eigenen Ring.
Wie erhofft fand ich ein Klümpchen Gold und eine Vorlage für einen sonnenförmigen Ring.
Stolz präsentierte ich beides meiner ganz eigenen Sonne.
Im Gegenzug hielt er mir freudig die Vorlage für einen mondförmigen Ring unter die Nase.
„Sternformen gab es leider nicht", erzählte er. „Aber guck, was ich gefunden hab!"
Aufgeregt funkelten seine Augen. Er nahm meine Hand, ehe er seine andere endlich hinter seinem Rücken hervor holte und öffnete.
Auf seiner Handfläche lag ein tropfenförmiges glänzendes Etwas. Es sah mehr aus wie ein Kristall, als ein Edelmetall. Selbst im schwachen Fackellicht hatte ich das Gefühl, es würde sich Sternen- und Mondlicht zugleich darin spiegeln.
„Oh Mahal, ist das-", setzte ich staunend an.
„Mithril", bestätigte Kíli stolz. „Nur das beste für meinen Stern."
Als Antwort strich ich ihm liebevoll über die Wange, ging auf Zehenspitzen und küsste ihn.
Es war ein langer und leidenschaftlicher Kuss, sanft und wunderschön.
Als wir uns wieder lösten, lehnten unsere Köpfe noch aneinander.
Alles, was wir je wollten, was wir jemals brauchen würden, war hier in unseren Armen. Worte waren sehr unnötig, sie würden den Moment nur ruinieren.
Words are very unnecessary, they can only do harm, Enjoy the Silence.
Zusammen setzten wir das kleinere Schmiedefeuer mithilfe der Fackeln wieder in Gang. Es dauerte ein bisschen, bis wir unsere Edelmetalle erhitzt bekamen, gossen sie dann aber in die jeweiligen Formen und legten die Kristalle schonmal für später daneben.
„Jetzt müssen wir warten. Kann ein bisschen dauern, bis es fertig ausgehärtet ist", erklärte Kíli.
„Also weiter erkunden?", schlug ich vor.
Er nickte. „Kommen wir morgen früh wieder."
Hand in Hand erklommen wir weiter die endlosen Treppen des Königreichs. Immer weiter hoch, sodass ich glaubte, wir müssten doch bald die Spitze erreichen.
Wir kamen an alten Schneidereien mit wunderschönen Stoffen vorbei, die wir uns für Hochzeitskleider merken wollten. Immer weiter hinauf ging es, vorbei an etlichen Wohnvierteln, der ein oder anderen Taverne und weiteren Einkaufsvierteln.
Bald wurde es nach oben hin schmaler, und wir kamen der Spitze des Berges tatsächlich sehr nah. Irgendwann war es nur noch eine Wendeltreppe, die immer weiter hoch führte. In ihrer Mitte fiel ein Wasserfall herab, tausende Meter in die dunklen Tiefen des Erebors.
Staunend streckte ich meine Hand aus und ließ sie sich mit Wasser füllen, welches zu meiner Überraschung den Mond spiegelte.
„Da oben muss ein Luftschacht sein!", erkannte ich und sah am Wasserfall hoch. Tatsächlich konnte ich unter etwas Anstrengung ein Loch in der Spitze erkennen. Draußen war es schon stockfinster, aber ein silbriges Licht fiel hindurch und leuchtete uns den Weg über die Treppe.
Kíli, der beide Fackeln in Händen trug, nahm aufgeregt gleich mehrere Stufen auf einmal.
Endlich erreichten wir das Ende. Hier war noch eine letzte Ebene; die einzige im ganzen Berg, die nur aus Holz bestand.
In der Mitte der Decke war die nun größer scheinende Öffnung mit Blick auf den sternbedeckten Nachthimmel. Von dort oben kam der Wasserfall. Irgendwo da draußen musste wohl eine Quelle sein.
Im Raum verteilt waren ein paar niedrige Tische und wenige Stühle. Ein antikes Teleskop stand in der Mitte, und die Wände waren voller alter Stern- und Landkarten.
Kíli steckte die Fackeln in zwei Halter an der Wand und hob etwas von einem der Tische auf; ein paar Holzkohlestifte und Papierrollen.
„Ein Atelier?", fragte ich überrascht.
„Und ein Kartenraum, Astronomieturm und die Quelle, die den Berg mit Wasser versorgt", erklärte er genauso staunend.
„Mit Abstand ist das hier mein Lieblingsraum", gab ich zu, und drehte mich dabei einmal um mich selbst.
„Komm her", grinste Kíli und setzte sich an den Tisch, an dem er stand.
Verwirrt grinste ich zurück und setzte mich langsam gegenüber von ihm.
„Halt still. Ich will dich zeichnen."
Sofort musste ich wieder lächeln. Diese Position konnte ich aber nicht zu lange halten, also setzte ich mein eher grimmiges entspanntes Gesicht auf.
„Was bedeuten die Runen?", fragte ich, als das Portrait fertig war.
„Oh, meine Sonne! Das hast du aber schön gezeichnet! Ich wusste gar nicht, dass du malen kannst!", erwiderte er sarkastisch.
Grinsend schüttelte ich den Kopf. „Ich dachte, das wär offensichtlich. Jaja, ich seh sehr slay und sehr smash aus. Weiß ich doch. Hast du gut gemacht."
„Hier steht: Charly Adaneth", erklärte er kopfschüttelnd und zeigte auf die Runen.
„Ich sehe, du hast mir ne Krone verpasst. Sieht aus wie ne Art Heiligenschein." Beim letzten Wort musste ich lachen. „Und was steht da?" Ich zeigte auf kleinere Runen weiter unten im Bild.
„Mein Stern."
*
(Bearbeitet: 18.03.2023)