Ich betrachtete mich im Spiegel, welches waagrecht über dem Waschbecken angebracht worden war, immer noch die gleichen erschöpften Augen und die blasse Haut, aber diesmal war der Kontrast viel stärker. Mit der Bürste, die auf der Kommode lag, kämmte ich mir langsam, ich nahm mir viel Zeit für alles, erst die Haarspitzen und arbeitete mich dann hoch bis zum Haaransatz.

Mit einem weiteren Handtuch trocknete ich soweit wie möglich die Haare und wickelte sie dann ebenso ein. Aus dem Augenwinkel entdeckte ich den Erste-Hilfe Schrank, dachte nicht lange nach und griff zu.

Mein Körper zitterte wieder sobald ich mich ins Schlafzimmer begab, da der Temperaturunterschied mich jetzt mit voller Wucht traf. Schnell schlüpfte ich in die schwarze Leggings, mit der man schlafen als auch im Notfall draußen wegrennen konnte, und in den großen grauen Pullover mit Kapuze.

Meine Haare flocht ich und ließ sie dann zur Seite fallen, zog mir noch die Kapuze auf ehe ich mich wieder ins Wohnzimmer begab, wo mich ein warmes Feuer im Karmin erwartete. Erfreut eilte ich zum Kamin und schmiss mich achtlos davor zu Boden.

»Du verbrennst dich noch«, brummte Jack, der mich durch seine geschlossenen Augen zu sehen schien. Erst jetzt schlug er die Augen wieder auf, bewegte sich aber sonst keinen Millimeter und blieb in der sitzenden Position - die Beine weit von sich gestreckt und die Arme vor der Brust verschränkt. Wieso schlief er immer noch nicht? »Das ging aber schnell.«, bemerkte er ironisch und nach einem raschen Blick auf die Uhr, verstand ich, dass ich fast zwei Stunden oben verbracht hatte.

»Passiert, wenn man sich tagelang nicht gewaschen hat.«, erwiderte ich schroffer als beabsichtigt.

Ihm entging mein Tonfall nicht, er krauste die Stirn, aber sagte nichts dazu. Wahrscheinlich war er einfach nur zu müde.

»Wieso schläfst du noch nicht?«, fragte ich stattdessen und hielt meine Handflächen gegen das Feuer, um sie zu wärmen. Ich war ihm wirklich dankbar dafür.

Jack grunzte nur zur Antwort, zu erschöpf für eine richtige.

Ich schnappte mir Kissen und Decke und machte es mir vor dem Kamin gemütlich. Denn immer noch zitterte ich an jedem Zentimeter meines Körpers. Wenn nicht einmal das Feuer dagegen half, was konnte ich sonst dagegen tun?

Ich schluckte und dachte scharf darüber nach ob ich ihm die nächste Frage stellen sollte oder nicht, aber letztendlich entschloss ich mich doch dazu: »Hast du sie umgebracht?«

Der Farblose hielt meinem Blick stand und verstand sofort, dass ich von den Ärzten im blauen Krankenhaus sprach. Und ich meinte damit nicht den, dessen Genick er mit nur einer einzigen Bewegung gebrochen hatte. »Ja«

Ich kannte die Antwort bereits bevor er es laut aussprach, aber trotzdem presste ich die Lippen zu einem schmalen Strich. Manchmal vergaß ich, dass Jack ein Farbloser war und sowas in seiner Welt vollkommen normal war. »Aber die Krankenschwester nicht.«, fügte er mit seiner rauen Stimme leise hinzu und wich keine Sekunde meinem Blick aus.

Überrascht blinzelte ich, seine raue Stimme jagte einen Schauer über meinen Rücken und in meinem Magen zog sich alles zusammen. »Wieso hast du sie am Leben gelassen?« Das war kein Vorwurf oder ein Urteil, ich wollte nur wissen, was sie von den anderen unterschied.

»Sie war genauso schuldig, aber sie hat mich angefleht, ihr nichts zu tun... Sie war schwanger und hat angeblich zwei Kinder, deswegen habe ich sie am Leben gelassen.« Seine Nasenflügel blähten sich auf, ein Zeichen, dass der Zorn noch nicht verraucht war.

Ich befürchtete, dass er von nun an immer diesen Zorn mit sich tragen würde.

Nickend sah ich ihm weiterhin in die dunklen Augen, die das Licht des Feuers perfekt einfingen. Ob er wusste, wie erleichtert ich über diese Nachricht war? Wenigstens eine Seele, die er verschont hatte. Und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass sie auf eine andere Art und Weise ihre gerechte Strafe fand. Genau wie alle, die an dem Geschehen im Keller beteiligt waren.

»Deine Albträume«, fing Jack wieder das Sprechen an und starrte mich weiter aus diesen Augen an. »Wie oft hast du welche?«

Sofort wurde mir bewusst, dass er nicht von heute Nacht sprach, sondern von dem letzten schlechten Traum in seiner Gegenwart. Als ich nicht von den Sternen am Himmel, sondern von der Zimmerdecke in meinem Zuhause geträumt hatte. Ich wich seinem Blick aus, in dem ich die roten, orangen Flammen im Kamin anstarrte.

Die Antwort darauf war einfach, war nur kurz und knapp, aber sie auszusprechen war wieder eine andere Sache. Die Albträume und Panikattacken, wenn ich in einem abgesperrten Raum festsaß, fingen im Alter von zehn Jahren an. Aber so richtig regelmäßig wurden sie nach meinem fünfzehnten Geburtstag. Den ersten schlimmen Anfall hatte ich in der zweiten Nacht, in der mein Vater mich in meinem Zimmer einsperren ließ. Wir hatten uns in die Haare bekommen und die Strafe für mein Benehmen sah er darin mich ganze sieben Tage nicht einmal vor die Tür meines eigenen Zimmers treten zu lassen. Essen ließ er mir hoch bestellen, begleitet von seinen Wachmännern, und nicht einmal als ich am dritten Tag an jenem Morgen das komplette Zimmer auf den Kopf stellte, hatte er mich freigelassen. Erst am Abend des siebten Tages, wenn die angegebene Zeit vorüber war und ich meine Strafe abgegessen hatte. Dabei wusste Dad ganz genau, dass ich panische Angst in kleinen Räumen hatte. Seit dem Tag des großen Überfalls.

Aber das konnte ich Jack schlecht verraten. Er wusste nicht wer ich war und dabei sollte es auch bleiben.

»Als ich noch ein Kind war, bei einer Adoptivfamilie, sperrte man mich für ein falsches Benehmen eine Woche in meinem Zimmer ein. Seitdem kann ich in engen oder abgeschlossenen Räumen nur sehr schwer ruhig bleiben.«, murmelte ich geistesabwesend, gedanklich war ich wieder auf meinem Bett und schrie die Frust in mein Kissen. »Die Albträume sind seither einige Male aufgetreten, aber nichts das ich ernst zu nehmen brauche.«

Jack stützte die Ellenbogen auf den Knien ab, die Augenbrauen streng zur Mitte gezogen und die Augen dunkler als je zuvor. »Für was wurdest du bestraft?«

Ich schluckte. »Ich hatte mich davongeschlichen als man mir nicht erlaubte mich mit meiner Freundin zu treffen.« Es war Shelly gewesen, die in jener Nacht auf mich gewartet hatte. Sie hatte die ganze Nacht auf einem Baum im Hinterhof unseres Palasts verbracht gehabt. Sie war damals sechzehn und durfte das erste Mal alleine ins rote Viertel reisen und eigentlich bei uns unterkommen, aber ich hatte ihr geraten sich ein Hotel zu suchen, wo wir dann beide hätten unsere Zeit verbringen können. Hauptsache raus aus dem Palast. Und als Dad mir das nicht erlaubte, wollte ich mich in der Nacht raus schleichen, Shelly vom Baum abholen und dann in der Stadt bummeln, die selbst nachts nicht schlief. Doch weder mein fünfzehn jähriges, noch ihr sechzehn jähriges Gehirn hatte mit einkalkuliert, dass wir nicht nur innen Wachen hatten, sondern auch unzählige vor und hinter dem Palast. So wurde ich erwischt bevor ich auch nur einen Fuß aus dem Hintergarten setzen konnte. Und das Lügen viel mir damals nicht so leicht.

»War das die Freundin, die du heute im Patientenzimmer gesehen hast?«

Das Blut gefror mir in den Venen. Er wusste, dass ich gelogen hatte, er wusste dass ich sie kannte, er hatte es bemerkt. Schweigend presste ich die Lippen fest aufeinander und begutachtete meine kurzen Nägel. »Ja«, murmelte ich. Lügen hatte keinen Zweck mehr. »Das war Shelly, meine damalige beste Freundin.«

Verständnisvoll nickte Jack. »Ich hoffe doch, dass du nichts falsches gesagt hast...«

Als sein Blick wieder düsterer wurde, hielt ich den Atem an und dachte zurück an unser Gespräch. Sie erzählte mir, wie sie von der Entführung erfahren hatte und wie sie weder meine Familie, noch meinen Vater danach noch zu Gesicht bekommen hatte. Sie sagte, dass mein Vater keine Suche nach mir angeordnet hätte, niemand außer einer Handvoll Soldaten suchten nach mir. Und das zerbrach mir das Herz. Wie konnte er nicht nach mir suchen, wenn doch meine gesamte Hoffnung darauf basierte? Wie konnte er so tun als hätte es mich nie gegeben, sich keine Sorgen um mich machen, wenn er mir doch versprochen hatte, mich für immer zu beschützen?

Shelly versprach mir, um Mitternacht im Hinterausgang des Krankenhauses auf mich zu warten und mich vor den Farblosen zu verstecken. Sie versprach mir bis dahin auch niemandem von meiner Anwesenheit zu verraten.

Um Mitternacht hatte sie gesagt. Und es war... 3:46 Uhr. Sie hatte bestimmt lange auf mich gewartet...

»Nein«, sagte ich leise, enttäuscht von mir selbst. »Nein, ich habe nichts falsches gesagt.«





Am Montag geht die Lesewoche los :)

Red Princess - Die Suche nach der Roten PrinzessinWhere stories live. Discover now