Kapitel 57

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Belle

Verdutzt hielt ich den Atem an. Wie bitte?

»Sie hat mir gestern Morgen im Schlafzimmer eine Notiz hinterlassen gehabt.« Mein Vater richtete sich mühsam auf, wobei ich ihm nicht helfen konnte, da ich noch immer in meiner Schockstarre verharrte. »Darauf stand, dass sie sich und Emily in Sicherheit bringen würde, da ich dies nicht mehr gewährleisten könne.«

Niedergeschlagen presste er die Lippen aufeinander und senkte den Blick.

»Sierra?«, hakte ich nach. »Dass sie dich verlassen hat, muss doch nicht gleich bedeuten, dass sie dich vergiftet hat. Bist du dir dabei sicher?«

»Nein.«

»Wie kannst du dann sowas behaupten? Das ist deine Ehefrau!« Ein wenig empörte es mich schon, dass mein Vater so wenig von der Mutter seiner Tochter hielt.

»Ich esse nur zuhause oder von zuhause. Wer sonst könnte-«

»Vielleicht eine Bedienstete? Einer der Köche?«

»Sie sitzen seit deinem Verschwinden in Haft.«, erwiderte er trocken.

»Wie bitte?!«, kreischte ich ungewollt auf.

Mein Vater meinte es ernst. »Sie haben sich nach jenem Tag verweigert zu arbeiten. Sie haben gestreikt und da ich sie nicht anderswo versetzen konnte, weil sie zu viele Geheimnisse, unter anderem deine Identität, kennen, hatte ich keine andere Wahl.«

»Was zur-«

»Das tut jetzt nichts zur Sache.«, beschwichtigte mein Vater. »Es geht hier darum, wer mich vergiftet haben könnte. Und außer Sierra hat mir keiner mehr Essen zubereitet... Nur weiß ich nicht, was sie dazu getrieben haben könnte...«

Ich blinzelte noch unter Schock. Wieso sagte er das alles ohne auch nur mit der Wimper zu zucken? Und seit wann sprach er so offen mit mir? »Wieso verrätst du mir das alles? Früher hast du mich in kein einziges Geschehen eingeweiht und jetzt besprichst du mit mir alles, vertraust mir solch wichtige Angelegenheiten an und hast keine Scheu mir deine hässliche Seite zu zeigen.«

»Meine hässliche Seite?«, lachte er unglaubwürdig auf. »Denkst du es macht mir Spaß, das alles tun zu müssen? Ich kann nachvollziehen, warum ich der Bösewicht in deinen Augen bin, aber irgendwann wirst du mich verstehen. Irgendwann wirst du verstehen, was es bedeutet für seine Familie Opfer bringen zu müssen.«

»Deine Familie? Sierra hat dich vergiftet!«

»Du bist meine Familie, Belle. Du bist mein Ein und Alles. Du bist meine Tochter! Genau wie Emily. Für euch beide würde ich alles tun.«

Mir blieben die Worte im Hals stecken. Ich war seine Familie, seine Tochter, sein Ein und Alles. Das hatte er alles für mich getan, aber darum hatte ich ihn nicht gebeten. Ich hätte niemals gewollt, dass Andere für meine Sicherheit leiden müssen!

»Dad«, atmete ich tief ein. »Es gibt auch andere Wege, seine Familie zu beschützen.«

Ein kurzes Auflachen seinerseits. »Du verstehst immer noch nicht, dass du kein normales Leben führst. Du bist nicht irgendeine Bürgerin, die mal hier und da „Feinde" hat. Du bist Belle Night, die zukünftige Herrscherin dieses Landes! Das passt vielen Leuten nicht. Es werden immer welche deinen Tod wünschen, um in der Rangfolge aufzusteigen und deinen Platz einzunehmen. Ich muss dich beschützen. Ich bin dein Vater, das ist meine Aufgabe!«

Ich senkte den Blick. Ein einfaches Leben wäre in der Tat viel einfacher. Meine größte Sorge wären meine Schulnoten gewesen, meine größte Freude ein Shopping-Tag mit Freunden. Ja, das wäre ein Traum. Vielleicht hätte ich mich dann in Ruhe an Leinwänden austoben können, hätte normale Eltern gehabt, die von der Arbeit nachhause kämen, um gemeinsam zu Abend zu essen. Es würde nicht so eine hohe Verantwortung auf meinen Schultern lasten. Wie die Verantwortung für ein ganzes Land, für Menschen, die sich Gerechtigkeit wünschten, für unschuldige Bürger, die sich nach Freiheit sehnten. Alle Augen waren auf die nächste Anführerin gerichtet, von der sie weit mehr erwarteten als die bisherigen Gesetze und Regeln, die nur zu Elend und Chaos geführt hatten. Sie erwarten so viel, ohne mich auch nur einmal gesehen zu haben. Würden sich ihre Hoffnung und Träume in Luft auflösen, wenn sie einen Nichtsnutz, der ich war, an der Spitze des Rates sehen würden? Ein Mädchen, das sich nach Freiheit sehnte, aber nur Freiheit für sich? Eine egoistische Führerin, der es nicht in den Plan passte, ein Land zu regieren?

»Dieses Schicksal«, fing ich leise an. »ist nicht das, was ich mir gewünscht hätte.« Ich schluckte schwer, aber hob den Blick an. »Aber ich werde das beste daraus machen. Ich werde den Menschen zurückgeben, was man ihnen einst genommen hat.«

Auch mein Vater wurde ernster als er sich vor lehnte. »Dann werden sich alle im Rat gegen dich wenden. Sie werden dir Steine in den Weg werfen, dich vor dem ganzen Land versuchen klein zu halten und dich bloßstellen, um deine Macht einzugrenzen. Denkst du, du bist dem gewachsen? Denkst du, du allein könntest etwas ausrichten?«

»Nein.«, reckte ich mein Kinn. »Aber das Land den Blauen zu überlassen wäre weitaus schlimmer.« Allein die Vorstellung wie sie alle Farblose einfingen und folterten, um eigene Forschungsinteressen zu stillen, stellte bei mir alle Nackenhaare auf.

Ein stolzes Grinsen stahl sich auf die Lippen meines Vaters. »Das ist meine Tochter.«

Ich erwiderte sein Grinsen nur halbherzig, da es in mir ganz anders aussah. Ich hatte meine Zweifel. Ich hatte Angst, nicht gut genug zu sein, den Vorstellungen der Bürger nicht entsprechen zu können. Sie würden mich hassen, sobald sie spürten, dass ich Sympathie für Farblose hegte.

»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«, griff ich das vorherige Thema wieder auf. »Wieso kannst du plötzlich so offen mit mir über alles reden?«

Seine Mundwinkel sackten in sich zusammen und er wurde ruhig. Er schien nachzudenken.

»Wenn-«, setzte ich bereits an, aber er schien sich gefasst zu haben.

»Ich werde nicht mehr lange leben.«, schluckte er schwer. »Und deswegen möchte ich dich soweit ich kann über alles aufklären. Du musst den richtigen Sinn für das Richtige und Falsche entwickeln, denn irgendwann werde ich nicht mehr da sein, um sie dir zu zeigen. Du musst die wahren Feinde erkennen.«

»Meinst du Farblose?«

Er schüttelte den Kopf. »Es waren noch nie die Farblosen.«

... Es waren noch nie die Farblosen. Aber ich dachte, dass er sie für das was sie meiner Mutter angetan hatten, hasste?

»Wir haben nicht mehr viel Zeit. Du musst am besten Morgen schon in den Keller und dir dein Armband anlegen. Nur das kann beweisen, dass du die wahre Nachfolgerin bist.«

Morgen schon? Ich schluckte. Ging das nicht etwas zu schnell? Trotzdem nickte ich. Mein rotes Armband mit dem kleinen Sternchen, in dem die wichtigsten Informationen des Landes enthalten waren, wurde von meinem Vater in unserem Keller im besten und sichersten Tresor der Welt gelagert. Nur der Abdruck meiner Hand konnte diese öffnen, nicht einmal mein Vater hatte die Macht dies zu tun. »Du kannst dich auf mich verlassen.«

»Ich habe Shane damit beauftragt, dich überallhin zu begleiten. Er wird für deine Sicherheit sorgen.«

Er vertraute ihm immer noch?

Mein Vater schien meine Verwirrung zu registrieren, denn er fügte hinzu: »Außer ihm vertrau ich derzeit nicht vielen. Ich kann nicht einschätzen wie weit die Blauen schon in mein Revier eingedrungen sind. Ich weiß nicht mehr wem man vertrauen kann und wem nicht.«

Ich senkte den Blick. »Ich sollte noch bei dir bleiben. Ich kann noch nicht nachhause.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Du wirst heute noch zurückkehren. Dort bist du sicherer.«

Ich seufzte schwermütig.

»Ach übrigens«, schnippte mein Vater mit dem Finger. »Das wollte ich dir eigentlich gestern schon sagen, aber ich kam nicht mehr dazu.« Er zeigte an die Infusion an seinem Arm und auf die Geräte um ihn herum, weswegen ich die Augen verdrehte. »Ich bin einen Handel mit dem Farblosen eingegangen.«

Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke. »Mit wem?!«

Mein Vater unterdrückte ein Seufzen. »Dem Farblosen, Jack Thomson. Das war der, mit dem du-«

»Ich weiß wer das ist.«, warf ich harsch ein. »Aber was meinst du mit Handel?«

Er atmete tief aus. »Ich hoffe, dass es nie dazu kommen wird.«

Ich verstand nicht.

»Von was für einem Handel sprechen wir?« In meinem Magen spürte ich ein plötzliches Durcheinander. Ich war froh zu hören, dass es Jack gut ging. Mein Herz schlug mir in den Ohren.

»Das kann ich dir nicht sagen, aber bitte merk dir eins: Ich werde immer zurechtkommen. Mach dir um mich keine Gedanken.«

Red Princess - Die Suche nach der Roten PrinzessinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt