Jack öffnete den Mund, um mir zu antworten, aber eine kehlige Stimme kam ihm zuvor. Bill tauchte hinter Jack auf und hielt mir nun seinen Teller entgegen. »In dieser Küche gibt es für dich nichts, solange du nicht redest.«

Mit seinem Auftritt hatte ich nicht gerechnet. Meine Augen wurden größer und ich blinzelte überfordert. Schockiert von seiner Anwesenheit starrte ich ihn an. Da ich saß und er stand, musste ich aufschauen, aber aufgrund seiner kleinen Figur war es einfacher für mich in seine hellbraunen Augen zu blicken. Bill spielte hier eindeutig die größere Rolle als Jack. Ob er wohl den Befehl erteilt hatte, der letztendlich zum Tod meiner Mutter führte? Oder hatte er sie sogar selbst ermordet? Hatte er sie angesehen? Wusste er wen er da umbrachte? Wusste er, dass sie eine zehnjährige Tochter hatte als er das tat?

Er räusperte sich und hielt mir den Teller nun direkt unter die Nase. Tief durchatmend schloss ich für zwei Sekunden die Augen und öffnete sie wieder mit dem Vorhaben ihm einfach seinen Teller zu füllen und ihn somit loszuwerden. Denn sein Anblick schnürte mir die Luft zu. Es erschwerte mir das Atmen und raubte mir fast alle Sinne. Bei seinem Anblick fingen meine Gliedmaßen das Zittern an. Das Bild meiner Mutter erschien vor meinen Augen und plötzlich wurde mir das Herz schwerer in meinem Brustkorb.

Ich presste die Lippen fest aufeinander, meine Nasenflügel blähten sich auf und ich zog die Kelle aus dem großen Topf, nahm das Geschirr aus seiner alten Hand und füllte ihn auf. Den Blickkontakt zu ihm vermied ich so gut ich konnte, als ich es ihm zurückreichte. Selbst die Nachricht, dass ich heute hungrig zu Bett gehen musste, drang nicht zu mir durch. Im Moment wollte ich einfach nur alleine sein, aber das war unmöglich. Ich saß in einer Halle voller Farblosen und teilte Essen aus. Nichts von all dem war in Ordnung. Eigentlich sollte ich jetzt in meinem Zimmer an meinem Schreibtisch sitzen, Musik hören und mich an einem Gemälde austoben. Mein Vater würde von der Arbeit zurückkommen und wir würden zusammen essen während ich ihm von meinem Tag erzählte und er mir von seinem. Ich hatte diese Momente immer als selbstverständlich gesehen und sie nie wirklich geschätzt. Und jetzt würde ich alles tun, um in diesen Alltag zurückzukehren. Ich würde mich sogar für meine grobe Art entschuldigen. Wir gingen schlecht auseinander und deswegen war es mir umso wichtiger ihn wiederzusehen. Ich musste hier einfach weg. Egal wie.

Bill wollte gerade weiter.

»Die Rote Prinzessin!«, rief ich ihm laut hinterher und gefühlt jeder hielt inne, auch er.

Tatsächlich schaffte ich es seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. »Was ist mit ihr?«, drehte er seinen Kopf zu mir.

Das war meine Chance. »Sie heißt Gloria Night und ist achtzehn Jahre alt. Ich... Ich habe sie nie persönlich zu Gesicht bekommen, da ich nicht für sie zuständig war - aber auf Familienfotos kann man erkennen, dass sie blond ist, wobei ich schätze, dass sie gefärbt sind und sie hat eine helle Augenfarbe. Keine Ahnung welche genau...« Alles was Mia und ich am ersten Tag besprochen hatten, zählte ich hier auf. Abgemacht war, dass sie es als Erste verriet und ich es im Nachhinein „bestätigte". »Sie wird zuhause privat unterrichtet und... und nur sehr wenige haben auch tatsächlich Kontakt mit ihr. Sie hat keine Freunde, weil es ihr nicht gestattest ist das Haus zu verlassen. Und wenn sie es tut, dann nur unter Beaufsichtigung von mindestens zwanzig Bodyguards.«

Jacks skeptischer Blick durchbohrte mich von der Seite, aber ich sah nicht ihn, sondern den eigentlichen Anführer der Farblosen an. »Und wieso erzählst du mir das jetzt?«

»Ich habe Hunger. Und außerdem möchte ich, dass man meine Wunden verarztet. Meine B-Beine haben erneut angefangen zu bluten.« Ich schluckte und hoffte inständig, dass er mir glaubte und mir neue Verbandsrollen gewährte.

Die ganze Zeit wich mein Blick nicht von seinem. Mehrere tiefe Falten hatten sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet. Die nächsten Sekunden fühlten sich an wie lange Minuten; die Zeit zog sich in die Länge.

»Diese Informationen reichen nur für die heutige Mahlzeit. Für die nächste musst du schon mehr bieten als nur das.« Mit diesen Worten zog er davon und ließ mich aufatmen. Das war ein Anfang.

Aber automatisch stellte ich mir die Frage: Wie viel hatte Mia schon geplaudert, um so ein Privileg zu genießen?

Jack reichte mir seinen vollen Teller. »Den hast du dir dann wohl verdient. Du kannst dich zu deiner Freundin setzen.«, nickte er in Mias Richtung. Sein Gesichtsausdruck war so neutral, dass ich im Moment nicht unterscheiden konnte, ob er mir glaubte oder nicht. Fakt war, dass ich so schnell wie möglich sein Vertrauen gewinnen musste. Denn seine andauernde Skepsis könnte schon sehr bald zu Problemen führen.

Schwer schluckend nahm ich die Suppe entgegen und stand auf. Ohne die Rothaarige oder Jack weiter zu beachten - aus Angst sie würden meine Lüge noch aufdecken - lief ich auch schon zu Mia.

»Mia!«, begrüßte ich meine etwas zu gutgelaunte Bedienstete, die sich gerade mit Drake unterhielt. »Lange nicht mehr gesehen...« Meine Stimme hatte einen etwas sarkastischen Tonfall, den ich nicht verhindern konnte.

»H-Hallo«, murmelte sie leise und ließ ihre Hand mit dem Löffel wieder in die Suppe sinken.

Auch Drakes Mundwinkel sanken allmählich. Okay? Wieso verstand sich Mia so gut mit den Farblosen? So sehr ich auch alleine mit ihr über das alles reden wollte, konnte ich nicht riskieren, dass ich mit solch einer Bitte Misstrauen auf mich zog. Erst vor einer Minute hatte ich es geschafft sie zu täuschen.

»Darf ich mich zu euch setzen?«, fragte ich höflichst. Ich wollte in Mias Nähe sein, denn auf diese Weise fühlte ich mich nicht so alleine im schwarzen Viertel. Aber aus einem mir unerklärlichen Grund bekam ich ein unwohles Gefühl im Bauch. Auf irgendeine Weise fühlte ich mich so hintergangen von ihr.

Unsicher warf sie einen Blick in die Gruppe. »Klar«

Ich setzte mich auf den freien Stuhl, aber fühlte mich augenblicklich unbehaglich und unwillkommen am Tisch. Ihre Konversationen hatten aufgehört und ich wurde nicht einmal angesehen. Während die Anderen stumm weiter aßen, presste Drake fest die Zähne zusammen und stocherte in seiner Mahlzeit herum. Auch die Stirn hatte er ernst in Falten gelegt.

Es überraschte mich, welch eine Auswirkung ich auf Farblose hatte, ohne, dass sie wussten wer ich eigentlich war. Ihr größter Feind. Wie würden sie reagieren, wenn sie erst herausfanden, dass sie die ganze Zeit die Rote Prinzessin unter sich hatten?

Allein der Gedanke war abschreckend und angsteinflößend zugleich. Ich presste die Lippen aufeinander während ich die Suppe vor mir anstarrte. Sie durften niemals meine wahre Identität herausfinden. Ich wäre so gut wir tot. Wir mussten hier weg bevor dieser Fall eintrat. Wir. Gab es überhaupt noch ein wir? Denn im Moment fühlte ich mich wie eine Einzelkämpferin. Es war sehr einsam, trotz der vielen Menschen um mich herum und trotz Mia, die auf meiner Seite stehen sollte.

Mir war der Appetit vergangen, aber ich zwang mich zu essen. Denn Bill meinte, dass ich nur heute eine Mahlzeit verdient hätte.

Red Princess - Die Suche nach der Roten PrinzessinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt