82.Kapitel ~ Überrumpeltes Wiedersehen

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82. Kapitel ~ Überrumpeltes Wiedersehen

Vier Tage später gibt es noch immer keine Spur von Dustin. In meinem Kopf habe ich einen Plan aufgestellt, durch das gesamte Candorviertel zu laufen, bis ich ihn finde.
Ich habe jedes Haus abgelaufen, an jedem der letzten vier verdammten Tagen! Und es ist, als wäre er nicht hier. So, als würde er sich nicht in dem Teil der Stadt aufhalten, der sein altes Zuhause war.
Die Worte seines Bruders waren so aufschlussreich, ich dachte wirklich, er würde sich hier befinden. Vielleicht habe ich mich auch einfach nur geirrt. Vielleicht habe ich mir diese Unterhaltung mit seinem scheinbar großen Bruder auch nur eingebildet.
Mein Verstand könnte mir einen gewaltigen Streich spielen. Es ist unmöglich, dass ich jetzt verrückt werden. Dabei wäre es gar nicht so abwegig. Schließlich habe ich die letzten Tage kaum mit jemandem gesprochen und bin immer nur hin und her geschlichen.

Im Gegensatz zu sonst habe ich heute nicht das Gefühl, als würde mir jemand folgen. Und wenn dann ist es die erste Person, die es unauffällig tut.

Mit schnellen Schritten laufe ich in die Seitenstraße, in der ich den Bruder von Dustin vor ein paar Tagen getroffen habe. Hier gehe ich öfters vorbei, in der Hoffnung das ich ihn noch ein weiteres Mal sehe und ihn diesmal dazu kriege mich zu Dustin zu fühlen.

Wenn ich so darüber nachdenke würde ich ihm jetzt vielleicht sogar meinen Namen sagen...

Ich wollte kein Risiko eingehen, wollte nicht das man mich vielleicht doch noch wegschnappt, nur weil ich einem Jungen, der zufällig aussieht wie mein bester Freund, gesagt habe wie ich heiße.
Wobei ich bezweifle das Dustins Bruder irgendetwas mit diesen Sachen zu tun haben könnte.
Schließlich ist er ein Candor und wirklich unvertrauenswürdig hat er nicht gewirkt, wenn auch nicht wirklich höflich. Aber welcher Candor ist das schon?- Abgesehen von Dustin selbst natürlich.

Ein paar Minuten stehe ich unschlüssig um, scharre mit meinen schwarzen Stiefeln im Dreck herum und warte.
Das ist so absurt und dämlich, aber ich kann einfach nicht damit aufhören. Ich kann- und ich will- die Hoffnung einfach nicht aufgeben. Wäre ich in meiner Kurzschlussreaktion nicht einfach weggerannt, dann hätte ich ihm folgen können und hätte gewusst wo er wohnt. Aber nein, ich musste einfach abhauen, wie ein scheues, kleines, dummes Mädchen.
Am liebsten würde ich meinen Kopf gegen die Wand schlagen, mir die Seele aus dem Leib schreien, doch ich lasse es.

Stattdessen seufze ich nur leise, schüttle mit dem Kopf und laufe weiter. Die Chance meinen besten Freund auf der Straße wiederzutreffen, hier in der Nähe, müsste riesig sein.
Doch wenn er sich wirklich hier aufhält, dann schaffen wir es irgendwie einfach aneinander vorbei zu rennen. Und das ist so frustrierend, das ich einfach losheulen möchte.

Das lässt mich furchtbar schwach wirken, aber das sollte mir egal sein. Schließlich habe ich schon oft genug bewiesen wie mutig ich eigentlich bin, wie stark.

Nachdenklich fahre ich mir mit den Händen über die Augen. All die Sucherei scheint völlig zwecklos zu sein. Wäre ich nicht so besessen und ehrgeizig hätte ich sicherlich schon aufgegeben. Und wenn sich eine Charaktereigenschaft am meisten durchgesetzt hat seit ich bei den Ferox bin, dann ist es mein Ehrgeiz.

Zögerlich mache ich mich auf den Rückweg zum Hauptquartier der Candor. Ich bin schon gefühlte Stunden unterwegs, weshalb ich so langesam zurück sollte. Zu mal mir momentan niemand zu folgen scheint. Vielleicht könnte ich mich einfach aus dem Staub machen, aber ich verdränge den Gedanken. Man würde mich sowieso überall finden.
Außerdem werde ich Dustin heute genauso wenig wie die letzten Tage aufspüren, ihm geschweige denn zu begegnen.

Mit recht langsamen Schritten schlurfe ich durch die Straßen. Bevor ich um die Ecke biege, um zum Eingang des Hauptquartiers zu gelangen, halte ich einen Moment inne.
Die Stille, die hier auf einmal herrscht ist erstaunlich. Sonst sind hier immer Candor die sich lautstark unterhalten, oder beleidigen.

Ich zucke heftig zusammen, als ich plötzlich Schüsse höre. Schüsse und zerberstendes Glas. Und dann ist es wieder ruhig. Das muss aus dem Hauptquartier kommen, anders kann es gar nicht sein. Schwerschluckend beschleunige ich meine Geschwindigkeit. Es ist dämlich, dass Beste wäre, wenn ich einfach wieder wegrennen würde. Aber nein, natürlich, Ally Hudson muss sich immer ins Ungewisse stürzen. Über meine eigenen Gedanken den Kopf schüttelnd trete ich über die vielen Glasscherben, die unter meinen Füßen laut knirschen.
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals.

Gott, du bist so verdammt dämlich! Dreh dich um und hau ab, bevor dir etwas passiert!, mahnt mich der langweilige, sichere Teil in meinem Kopf. Doch ich höre nicht darauf, gehe noch ein paar Schritte, ehe ich mir mit großen Augen, die Hand vor den Mund schlage.

Überall liegen Menschen, reglose Körper. Es sind die Feroxkrieger, die schon bei meiner Befragung dabei waren. Sind sie tot?
Abermals fühlt meine Kehle sich wie zugeschnürrt an und panisch gehe ich ein paar Schritte rückwärts.

Nur ein Gedanke schießt durch meinen Kopf: Wer auch immer das war, sie sind noch hier. Ich muss mich verstecken.
So leise wie möglich wende ich mich ab und stolpere lautlos durch die Gänge. Ich kenne das Hauptquartier zwar schon besser, als zu dem Zeitpunkt, als ich hier angekommen bin, aber noch nicht so gut, dass ich wüsste wo ein gutes Versteck ist. Momentan tendiere ich zum Waschraum, aber das wirkt auf mich viel zu naiv und leichtsinnig.

Meine Hände zittern und mein Herz hämmert, während ich darauf bedacht bin, bei jedem Mal, wenn ich eine Ecke umrunde, mit niemanden zusammen zustoßen. Aber hier ist niemand. Es ist vollkommen leise. Die Verzweiflung wird immer größer. Wenn all die Ferox wirklich tot sind, dann wird man auch nicht zögern mich zu erschießen.
Mir wird ganz schlecht. Außerdem wird die Angst mit jeder Sekunde größer.

Wieso bist du auch so blöd und rennst hier rein? Du wusstest doch genau, dass irgendetwas nicht stimmt.

"Ach halt die Klappe.", zische ich zu mir selbst, ehe mir klar wird wie merkwürdig das ist. Mitbekommen hat das sicherlich niemand.

Da ich absolut keine Ahnung habe was ich tun soll, entscheide ich mich für meinen ersten Gedanken: Ich werde mich einfach im Waschsaal verstecken. Ich kann mich nicht mehr richtig erinnern, ob man die Türen dort verschließen kann, aber wenn nicht, dann werde ich trotzdem rein gehen.
Der Gedanke eingesperrt zu sein und zu hören wie jemand immer näher kommt, um mich umzubringen ist zwar nicht sonderlich schön, aber mir bleibt nichts anderes übrig. Ich könnte meinen Mut auch einfach zeigen und das Hauptquartier verlassen, aber etwas in mir streubt sich dagegen. Das kann ich nicht tun, denn das Risiko ist zu groß.

Mit etwas schnelleren Schritten und diesmal viel wagemutiger biege ich um die Ecke. Mein Herz setzt einen Schlag aus, mein Hände werden noch zittriger. Dort steht jemand und er muss nur den Kopf heben, um zu erkennen das ich nur wenige Meter entfernt stehe.
So leise wie möglich will ich einen Schritt nach hinten machen, doch ich schaffe es nicht rechtzeitig.
Der Ferox in seiner schwarzen Kleidung sieht auf.

Als ich ihm ins Gesicht schaue wird mir ganz komisch. Das dumpfe Gefühl in meinem Magen ist zurück, gemischt mit riesiger Aufregung und ein kleinem bisschen Freunde. Mein Mund fühlt sich merkwürdig trocken an und meine Stimme klingt heiser, als ich seinen Namen sage.

"Eric?"  

Willenlos | Divergent / Die Bestimmung ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt