54. Leergefegte Köpfe

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Ich legte meinen Laptop weg und starrte nachdenklich aus dem Fenster. Damals hatte ich relativ gute Noten, einen besten Freund, eine Freundin die noch keine Spielchen spielte und einen festen Job. Jetzt kellnere ich hin und wieder, habe nur zwei gute Noten und der Rest geht momentan bergab und mein bester Freund, genauso wie meine Ex, scheinen momentan eine Krisenzeit durchzumachen. Vielleicht tat das die Uni mit einem. Bessere Noten sind zwar ein Muss in meiner Situation, aber nicht unbedingt um zu studieren. Darauf konnte ich auch verzichten.

Mit 18 Jahren im letzten Schuljahr... Es gab definitiv Schlimmeres. Aber fast schon aus dem Nichts kam dieses unangenehme, fast schon brennende Gefühl in mir auf.

War es Scham? Verwirrung? Aber sicher. Ich brauchte so langsam irgendeine Richtung im Leben. Das war mir aber schon länger klar. Nur wurde es endlich Zeit, etwas dafür zutun.

„Carter?", schreckte Julie mich plötzlich von der anderen Seite meiner Tür aus meinen Gedanken. Sie klopfte leise und stürmte dann in mein Zimmer. Der herrliche Duft von Lasagne kündigte ihren Besuchsgrund an.

Meine Laune, die gerade steil am sinken war, stieg wieder. „Hm", machte ich und nahm den Teller entgegen. Lasagne im Bett. Gab's was Besseres?

„Wie geht es dir?", fragte Julie und setzte sich auf meinen Schreibstuhl. Ich zuckte die Achseln.

„Momentan ganz okay."

Sie nickte schweigend und ließ ihren Blick durch mein Zimmer gleiten. Gerade als ich dachte, jeden Moment für die Unordnung attackiert zu werden, kam sie auf ein ganz anderes Thema zu sprechen: „Ist dein Handy aus?"

Überrascht stockte ich kurz und schluckte hastig mein Essen runter. „Ja, denke schon. Wieso?"

Sie wandte den Blick ab. „Es gibt Menschen, die sich um dich sorgen und versuchen dich zu erreichen."

„Was?", ich runzelte die Stirn. „Du redest doch gerade auch so mit mir."

„Ich meine ja auch nicht mich, du Idiot. Es war auch nicht sarkastisch gemeint. Elaine macht sich Sorgen...", sie zögerte kurz. „Linda wurde seit über einem Tag nicht mehr gesehen... El dachte, du weißt vielleicht was, weil ihr euch ja zuletzt gezofft habt."

„Oh", wieder so ein komisches Gefühl in der Brust. „Ist es ungewöhnlich, dass Linda kurz abtaucht?"

„Geht so. Kam schonmal vor, aber nie aus gutem Grund. Vor zwei Jahren kam sie nach zwei Tagen komplett dicht zurück. War mit einem volljährigen Typen feiern, oder so. Da war sie 15. Deswegen machen sich alle Sorgen."

Ich nickte nur. Sie wirkte ehrlich gesagt wie der Typ Teenager, der sich auf College Partys schlich. Und das sage ich nichtmal, weil ich sie damit beleidigen wollte. Obwohl sie es schon verdient hätte, nach der Nummer mit Daniel und Elaine vor ein paar Tagen.

Da war ich wieder bei ihr in Gedanken. Julie seufzte. „Wo ist dein Handy? Ich stecke es ans Ladegerät."

„Keine Ahnung. Vielleicht in meinen Klamotten."

Etwas genervt machte sie auch auf die Suche, während ich weiter aß. Tatsächlich sagte sie kein weiteres Wort, bis sie es gefunden und angeschlossen hatte. Bevor sie mein Zimmer verließ teilte sie mir noch eine Sache mit: „El kommt dich gegen 20 Uhr besuchen."

Mein Blick schoss zu meinem digitalen Wecker. Es war 19:44 Uhr. Und im nächsten Moment läutete auch schon die Hausklingel.

* * *

„Hey, Carter", grüßte El mich außer Atem, nachdem sie kaum hörbar geklopft und sich selber reingelassen hatte. Ich stand mitten im Raum auf der Suche nach Shorts.

Sie ließ sich kaum was anmerken und schlenderte zu meiner Couch. „Hi", murmelte ich und zog mir die nächstbesten Shorts an. Etwas merkwürdig. Ich hatte zwar nicht das Gefühl mich bedecken zu müssen, aber meine Avocado Boxershorts musste nicht im Wege einer ordentlichen Konversation stehen.

„Schickes Höschen. Wie gehts dir? Julie meint, du hattest Fieber. Ist es jetzt besser?"

Ich nickte und gesellte mich zu ihr. El sah sich um und jetzt wünschte ich Julie hätte sich doch wegen der Unordnung geäußert.

„Ich muss dir was sagen. Sorry, dass ich dich jetzt so bestürze, aber Louis wird bald wieder Zuhause sein und ich habe keine Lust mich mit ihm zu streiten."

Das Gefühl, welches durch diese Aussage in mir ausgelöst wurde, konnte ich schlagartig identifizieren: Wut. Plötzliche, brennende Wut.

„Was sagen eigentlich deine Eltern dazu, dass dein Adoptivcousin dir derart auf die Pelle rückt? Fällt das denen nicht auf?"

Ich konnte ihr ansehen, dass sie da eigentlich nicht wirklich drüber reden wollte, doch sie holte tief Luft und erklärte: „Sie mochten dich sehr... Bevor du mich zu einer Party mitgenommen, anschließend mich auf dieser Party high mit Glitzer im Gesicht krankenhausreif geleckt hast und daraufhin die Nacht mit mir in deinem Auto verbracht hast. Und das auch noch auf einem Tankstellen Parkplatz mitten im britischen Herbst."

Und da war die unerträgliche Scham wieder. Ich glaube sie sah es mir auch an. „Es tut mir leid", brauchte ich nur hervor, obwohl ich nicht verstand was das mit Louis zutun hatte, doch sie schüttelte den Kopf.

„Ich weiß, Carter. Sie wissen es auch, obwohl du auch persönlich mit ihnen hättest sprechen können."

„Werde ich. Noch dieses Wochenende."

Das schien sie glücklich zu machen. Ob das die Lösung für die Belästigung, die sie durch Louis erfuhr, war? Ich fühlte mich so dumm. Wieso bin ich nicht eher drauf gekommen, dass nicht nur Louis sondern ihre ganze Familie mich deswegen boykottieren wollen könnte? Und das zurecht.

„Ich wollte dich nicht drum bitten, weil ich ja weiß, dass du diese doofen Pillen genommen hast, als du nicht mehr bei dir warst. Es ist okay. Aber ein Gespräch könnte helfen, um zu zeigen, dass du dennoch verantwortungsbewusst bist."

Ich nickte zustimmend. „Sorry, dass ich nicht von selbst drauf gekommen bin." Das klang etwas halbherzig.

Sie lachte plötzlich, wenn auch mit gesenkter Stimme. „Ist schon okay, Carter. Aber ich bin eigentlich wegen etwas anderem hier. Wie geht es dir?"

Ich war mir nicht sicher, was sie meinte und starrte sie nachdenklich an. Das schien sie zu nerven.

„Hör mal, wie oft soll ich dich noch fragen, bevor du realisierst, dass ich mich um dein Wohlbefinden sorge?"

„Oh", machte ich nur und stockte kurz. „Mir gehts gut. Keine Ahnung, was los ist, aber es hielt nicht lange. Dich hat es nicht erwischt, oder?"

Sie schüttelte den Kopf. „Ich nerve dich dann mal nicht weiter. Ruh dich aus." Räuspernd stand sie wieder auf.

„Du nervst nicht", sagte ich noch unüberlegt, doch das hielt sie nicht auf.

Mit einem schüchternen Lächeln und einem letzten Blick in meine Richtung verließ sie auch schon wieder mein Zimmer. Der einst betörende Duft der Lasagne bereitete mir nun Übelkeit.

Es war nichts passiert, aber mein Kopf war wie leergefegt.

BorderlineOn viuen les histories. Descobreix ara