55. Widerhallende Worte

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Der heutige Tag war sehr einsam. Niemand kam mich besuchen, außer Mum morgens, um mein Fieber zu messen. Dad hatte nach der Arbeit kurz den Kopf in mein Zimmer gesteckt und knapp gefragt, ob es mir gut geht. Ich hatte die Frage bejaht, aber jetzt wo mir langweilig war und ich mich fragte, wo Julie abblieb, bezweifle ich, ob das so stimmte.

Vielleicht hatte sie ab und zu vorbei geschaut und ich hatte es nicht mitbekommen, da ich gefühlt alle 60 Minuten ein Nickerchen machte. Zwei Stunden schlafen, 60 Minuten wach sein und das immer wieder bis 18 Uhr. Als ich um die Uhrzeit immer noch niemanden hörte machte ich mich auf den Weg nach unten und sah in der Küche und im Wohnzimmer nach. Keiner da. Komisch.

Gelangweilt und etwas sicherer auf den Beinen schnappte ich mir mein Handy und rief Lucien an. Als ich vor ein paar Stunden nachgesehen hatte, wer sich in den letzten Tagen bei mir so gemeldet hatte, war er mit circa 40 Nachrichten eindeutig Sieger. Ich hatte ihm knapp geantwortet und ein ebenso knappes „Ok" zurückerhalten. Jetzt ging er nicht ran.

Grummelnd entschied ich mich, mich anzuziehen und durch die Gegend zu laufen. Mir fehlte die Bewegung und frische Luft.

Ich öffnete die Haustür und vergrub seufzend meine Hände in meinen Jackentaschen. Es war schon spät und die Sonne lange nicht mehr am Himmel, aber die weiße, dünne Schneedecke strahlte mir dennoch entgegen. Die Beleuchtung in unserem Vorgarten sorgte für ein schönes, fast schon beruhigendes und definitiv faszinierendes Lichtspiel.

In Gedanken versunken machte ich mich ohne Plan auf den Weg. Ungefähr zwei Stunden vertrieb ich meine Zeit und merkte erst als ich zum vierten Mal Els Nachbarschaft durchquerte, dass ich mein Handy vergessen hatte. Einfach so bei ihr klopfen traute ich mich irgendwie nicht. Und so langsam verließ mich auch die Kraft.

Als ich wieder zuhause ankam war ich erschöpft. Die Uhr sagte mir, dass es bereits kurz vor 21 Uhr war. Höchste Zeit für die anderen mal endlich nach Hause zu kommen.

Wäre ich nicht wieder so müde gewesen, hätte ich bemerkt, dass Lucien, Mum, Dad, Amor und Elaine mich angerufen hatten. Teilweise sogar mehrfach. Doch ich fiel einfach nur ins Bett als hätte ich nicht schon den halben Tag geschlafen und driftete schon bald wieder in den Tiefschlaf.

* * *

Als ich am nächsten Morgen aufwachte war es genauso ruhig wie am Vorabend. Sehr ungewöhnlich. Es war schließlich Samstag.

Nach einer schnellen Dusche entschied ich mich ordentliche Kleidung anzuziehen und mal zu investigieren. Mir ging es viel besser. Mein Kopf fühlte sich weniger nebelig an, sodass ich klar denken konnte.

Ohne etwas zu ahnen griff ich nach meinem Handy und dann sah ich die ganzen verpassten Anrufe. Es war gerade mal 9 Uhr, also waren alle noch von gestern Abend. Verwirrt ging ich rüber in Julies Zimmer, doch sie war nicht da.

Als ich nach unten eilte und im Wohnzimmer meine Eltern vorfand war ich fast schon überrascht. Sie saßen da in totaler Stille. Beide komplett ruhig. Mum starrte in die Leere, während Dad mit gerunzelter Stirn die Zeitung laß.

Ich räusperte mich und trat in den Raum. Beide sahen gleichzeitig auf. Die Atmosphäre war so angespannt, sie schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte fragen was los war, zögerte aber.

„Wo wart ihr alle gestern? Und wo ist Julie?", fragte ich stattdessen.

„Bei Elaine", antwortete Mum. Dad legte raschelnd seine Zeitung weg.

Ich setzte mich zu ihnen und schwieg, bis einer auch die andere Frage beantwortete. Dad war dann so gütig.

„Wir waren gestern bei Hanna und Kyle, Linda und Daniels Eltern. Danach waren wir im Krankenhaus", er atmete tief ein und fuhr fort, bevor ich mit weiteren Fragen dazwischenfunken konnte. „Deine Klassenkameradin, Linda, wurde gestern Abend tot aufgefunden. Julie war bei Daniel als sie es erfahren haben und ist zusammengebrochen, deswegen der Krankenhausbesuch. Jetzt ist sie bei Elaine, weil sie meint, dass es das Einzige ist, was beiden helfen wird. Also stellen wir uns dem natürlich nicht in den Weg."

Ich starrte ihn schweigend an. Keine Ahnung, wie lange. Die Worte hallten immer wieder in meinem Kopf wider: Linda... tot aufgefunden... Linda... tot...

„Standet ihr euch nahe?", fragte Mum. Ich nahm sie kaum wahr.

Wortlos und langsam erhob ich mich. „Tot aufgefunden? Wie?", fragte ich schließlich mit belegter Stimme. Ich war mir nichtmal sicher, was ich damit meinte oder erreichen wollte.

Mum zog die Augenbrauen zusammen. „Die Polizei gibt noch keine Details heraus. Ich meine, nichtmal ihre Eltern wissen genau, wie es dazu gekommen ist. Vielleicht weiß es die Polizei selber auch noch nicht."

Ich registriere, was sie sagte, aber brachte kein weiteres Wort heraus. Für einen Moment stand ich noch dumm im Wohnzimmer rum und dann taten meine Beine einfach was sie wollten. Sie zwangen mich Richtung Haustür. Mum rief mir hinterher: „Wohin, Carter?"

„Elaine", murmelte ich nur und schnappte mir meine Schlüssel. Ohne ein weiteres Wort äußern zu können ließ ich auch schon die Tür hinter mir zufallen.

* * *

Nervös zitternd schrieb ich Elaine eine Nachricht.

An: Elaine. 9:55 Uhr
Bist du wach?

Es dauerte eine Minute bis sie die Nachricht sah. Aber es folgte keine Antwort. Ich starrte auf mein Handy, unsicher wie ich vorgehen sollte. Es dauerte keine weitere Minute, da hörte ich schon das Knirschen von Schnee unter Stiefeln.

Elaine hastete auf mich zu und riss praktisch die Beifahrertür auf. Sie flüchtete in die Wärme und schloss die Tür hinter sich. Danach folgte eine halbe Minute lang Stille, in der ich nur ihre schnelle Atmung und meinen eigenen Herzschlag hörte.

„Es war Lindas", brachte sie dann hervor. Ich legte fragend den Kopf schief. „Das Tagebuch. Es gehörte ihr."

Wir starrten einander an, bis ihre Augen glasig wurden und sie sich plötzlich in meine Arme warf. Ich hatte diese zwar nicht ausgebreitet, aber fing sie so schnell auf wie niemand anderen zuvor.

Und dann begann sie zu schluchzen. Und ich hielt sie nur fest. Und es tat mir weh.

Doch ich sagte nichts. Genauso wenig wie sie. So saßen wir gefühlt stundenlang mit laufendem Motor und meinem ohrenbetäubenden Herzschlag und ihrem zitternden Körper und so beschissen die Situation auch war... Ich war froh, hier zu sein.

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