Engel mit Zähnen

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Undeutliche Stimmen. Licht fiel in das Zimmer. Avis zog langsam seine schweren Augenlider hoch. Der Wecker hatte noch nicht geklingelt, doch etwas stimmte nicht. Die Atmosphäre im Raum war anders als sonst. Schritte entfernten sich, eine undeutliche Gestalt durchquerte den Raum, wobei gelegentliches Knacken erklang, wenn sie auf fast leere Chipstüten, CD-Hüllen, Kugelschreiber oder sonstigen Kram trat, der auf dem Boden verstreut lag. Vor der Tür verharrte sie kurz, schaute sich nochmal um und verließ dann das Zimmer. Avis, noch immer mehr schlafend, als wach, warf einen kurzen Blick auf die Uhr seines Smartphones, bevor er sich vom Licht, das durch den etwas geöffneten Rollladen fiel, abwandet und die Augen wieder schloss. Als ein Ausschnitt aus einem Lied der Rodeo Gorillas ihn Weckte, war die kurze Unterbrechung kaum mehr als ein schwaches Bild, von dem er nicht wusste, ob es wirklich geschehen war, oder doch nur der letzte Fetzten eines Traums, der hängen geblieben war. Er beendete mit einem Wischen den Wecker, der begonnen hatte sich in seinen Verstand zu bohren. Doch der Loop würde noch einige Minuten in seinem Kopf herum schwirren, während er seine Sachen zusammen kramte und sich auf den Weg zum Bad machte. Während das Wasser über seine Federn rann, pfiff er leise weiter den Refrain von "Such Rebells". Unter dem Strom des lauwarmen Wassers, das immer wieder von kurzen Schwallen, Kälte unterbrochen wurde, wachte er langsam auf. Er drückte die letzten Tropfen Federpflege aus der Flasche, bevor er sie im hohen Bogen in Richtung des Mülleimers warf. Das Geräusch, als sie in der Tüte verschwand hatte etwas seltsam befriedigendes an sich... Die Tür klapperte. Jemand betrat den Raum, nein, es waren mindestens zwei. Dem Kratzen nach, war ein Reptil dabei, dessen Schuppiger Schwanz über die Fließen kratzte. Avis stellte das Wasser ab und lauschte kurz. Ein Vorhang knisterte, Wasserhähne quietschten und eine Dusche begann zu laufen. Er schüttelte das restliche Wasser ab, wickelte sich sein Handtuch um und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Zimmer. Auf halbem Weg wurde er von Tim eingeholt, wo auch immer der Tiger her kam. Er war bereits voll angezogen und grinste breit. "Guten Morgen. Auch schon wach?" Avis grummelte nur etwas unverständliches, während er nach dem Zimmerschlüssel kramte. Er fand ihn nicht. Tim drängte sich an ihm vorbei und schob eine seiner Krallen in den breiten Spalt zwischen Rahmen und Tür. Es gab ein leises Klacken und die Tür öffnete sich einige Zentimeter. Tim riss sie vollends auf, wobei der dadurch entstehende Luftzug eine vielzahl leichter Objekte, wie Zettel, Heftchen, aber auch eine beachtliche Menge Staub, die sich auf und im Teppich gesammelt hatte, aufwirbelte. Der Luftzug durchquerte binnen Sekunden den Raum und schlug, durch das Chaos wenigstens etwas gebremst gegen die Mauern der Stadt auf Avis Schreibtisch. Mit einem lauten Rauschen stürzten die hohen Türme ein weiteres mal ein. Avis schob einen Teil der Blätter, von denen er glaubte, sie müssten ungefähr aus dem richtigen Themenbereich sein in seine Tasche und machte sich dann, zusammen mit Tim auf den Weg zur Mensa. Es schien, als wäre zwischen Marcus und Terrence wieder so etwas wie Normalität eingekehrt. Die beiden saßen wieder, auf ihren üblichen Plätzen, neben Avis. Dieser kramte gerade in seiner Tasche, als ihm eine rot weiße Feder zwischen die Krallen rutschte. Wie kam sie zwischen seine Notizen? "Hey Avis? Hast du einen Stift?" Eine Krallenhand griff über seine Schulter, ihre roten Flugfedern strichen über seine Schulter. Avis kramte einen Kugelschreiber hervor, der noch keine deutlich sichtbaren Abdrücke seiner Schnabelkante aufweist und reichte ihn nach hinten. "Danke! Bekommst ihn später zurück."

Tamara setzte sich einen Tisch weiter zu einer Rabin und der Pantherin Kira. Mit dem Kugelschreiber kritzelte sie etwas auf einen kleinen Block, riss die Seite heraus schob sie über den Tisch einer Königspython zu, die sich dort niedergelassen hatte. Diese warf einen kurzen Blick darauf und stopfte ihn dann in eine Tasche ihrer (sehr langen) Jacke.

Es war Freitag. Die letzte Vorlesung der Woche lag hinter ihm. Avis hätte die schwarze Gestalt neben der Ausfahrt fast übersehen und überlegte für einige Momente, ob er so tun sollte als ob. Auch als diese begann mit den Armen und Flügeln zu wedeln. Doch als sich ihre Blicke trafen, wusste er, dass er es nicht so einfach tun konnte. Auch wenn er immer noch sauer auf ihn war, setzte Avis den Blinker und hielt einige Meter hinter Frederic an. Dieser kam langsam näher, lief um das Auto herum und versuchte die Beifahrertür zu öffnen. Die Klinke der Tür klapperte, doch Avis hatte sie noch verriegelt. Erst nach Frederics dritten Versuch beugte er sich hinüber und zog an der inneren Klinke. "Was für ein Zufall dass ich dich hier treffe..." Ja, was für ein Zufall... "Wo möchtest du hin?" "Ist mir egal. Einfach in Richtung Stadtzentrum." Frederic zwängte sich auf den Beifahrersitz, den Kopf dabei eingezogen, um den, ohnehin schon lädierten, Dachhimmel nicht vollständig zu zerfetzten. Avis setzte an, etwas zu fragen, ließ es dann jedoch. Doch Frederic bemerkte die Spannung, die in der Luft lag. "Hast du meine Nachrichten bekommen?" Frederic hatte ihm im laufe der Woche mehrfach geschrieben, doch Avis hatte sich bis jetzt zurückgehalten zu Antworten und auch jetzt ignorierte er die Frage. "Du schuldest mir noch 300 für die Kaution." Eine weitere Ausgabe, die ihm in seinem Monatsbudget fehlte. "Ich bin grad etwas knapp bei Kasse, aber ich schaue, dass ich dir das Geld bald zurück Zahle. Geb mir zwei, vielleicht drei Wochen." Avis knirschte mit dem Schnabel, was Frederic als eine Art Zustimmung interpretierte. "Also? Was hast du so vor." versuchte Frederic, etwas unbeholfen, das Gespräch in angenehmere Richtungen zu lenken. "Einkaufen."

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