Kapitel 27

21 1 0
                                    

Stunden vergingen und ich wich nicht von Cutters Seite. Mein Kopf ruhte auf seiner kühlen, festen Brust und mit meinen Händen klammerte ich mich an seine leblosen Schultern. Die Gefühle in mir tobten und doch schaffte ich es nicht, irgendetwas von mir zu geben. Ich war wütend. Ich war wütend auf Curse, weil er meinem Freund das Leben genommen hatte. Ich war wütend auf den Herrn, weil er Curse erst geschickt hatte. Die meiste Wut hatte ich jedoch auf mich selbst. Ich hatte Curse ermordet! Ich hatte jemandem das Leben genommen und war somit nicht besser als der Gefallene selbst. Noch wütender war ich jedoch, weil ich es nicht früher getan hatte. Ich hätte es verhindern können. Hätte ich früher eingegriffen... hätte ich Curse früher das Leben genommen, dann wäre Cutter jetzt noch bei mir. Ich hätte ihn retten können.

Meine Brust hob und senkte sich regelmäßig. Die Nacht war kalt, doch es war mir egal. Ich war traurig. Ich war traurig, weil ich Cutter verloren hatte. Ich war traurig, weil ich es hätte verhindern können. Ich war traurig, weil ich nicht wusste, was ich nun machen sollte. Ich war traurig, weil ich nun allein war und auch meine Schwestern nie wieder sehen würde. Ich war traurig, weil alles umsonst gewesen war und nun, ohne Cutter, nichts mehr einen Sinn ergab. Gar nichts.

Ich schloss die Augen. Meine Lider waren schwer und meine Augen geschwollen. Mein Hals, mein ganzer Körper schmerzte, doch ich wollte Cutter nicht verlassen. Ich konnte es noch nicht. Abgesehen davon übertraf kein körperlicher Schmerz den, den ich nun wie einen Stich in meinem Herzen fühlte. Alles tat so weh. Es war eine furchtbare Nacht. Ich wünschte nur, sie würde endlich zu Ende gehen.

Erinnerungen an Cutter flammten schmerzvoll in mir auf.

Ein weißer Rabe, der seine Krallen in meine Schultern grub und dessen silberner Ring im Licht glitzerte

Ein weißer Löwe, der seelenruhig schlief und von einer Savanne träumte

Ein großer, schlaksiger Junge mit heller Haut und weißen Haaren, die mich an Wolken erinnerten

Und überall waren diese tiefen, nachtblauen Augen, in denen jede Spiegelung des Lichts ein Stern war

Ein sanfter Druck legte sich auf meinen Kopf und riss mich aus meinen Gedanken. Ich fühlte mich besser, als ich versuchte, die Augen zu öffnen. Vereinzelt glitzerten noch Sterne am blassblauen Himmel, doch die Sonne würde bald aufgehen. Der Druck, der sich auf meinen Kopf gelegt hatte, glitt hinunter zu meiner Schulter und plötzlich machte mein Herz einen Satz. Das war unmöglich.

Ich riss meine Augen auf. Cutters Arm. Er war angewinkelt. Das konnte nicht sein. Meine Lunge füllte sich mit Luft, doch ich unterdrückte einen Schrei. Stattdessen löste ich langsam meine Hand von Cutters Schulter und legte sie auf den Arm, der um mich geschlungen war. Seine Muskeln waren angespannt. Mein Herz begann schneller zu schlagen und mit kratziger, zitternder Stimme brachte ich schließlich ein Wort heraus. „Cutter?", fragte ich leise. Kurz geschah nichts, doch dann spürte ich, wie sich unter mir etwas regte. Seine Brust hob sich und dann plötzlich erklang seine tiefe Stimme: „Ich sagte, ich beschütze dich solange die Sterne über uns stehen, kleine Freundin. Und ich halte meine Versprechen." Mit einem Ruck setzte ich mich auf und sah fassungslos in ein Paar nachtblaue Augen. Ich schlug die Hände vors Gesicht und betrachtete meinen besten Freund. Er sah aus, wie immer. Seine Augen waren aufmerksam und freundlich. Sein Körper leuchtete sachte und seine Haare standen zerzaust von seinem Kopf ab. Meine Augen füllten sich erneut mit Tränen und ich schüttelte ungläubig den Kopf. Es ging ihm gut. Er war wohlauf. Cutter lebte!
Mein Herz raste in meiner Brust und schlug fest gegen meine Rippen. „Ich- ich dachte du wärst tot", brachte ich stotternd über die Lippen und nun rollten Tränen über meine Wangen. Tränen der Erleichterung. Freudentränen. Mit einem aufmunternden Lächeln richtete Cutter sich auf und nahm mich in den Arm. „Das dachte ich auch kurz", gestand er flüsternd und drückte mich an sich. Schluchzend tropfte ich noch mehr Tränen auf sein Hemd, doch er lebte und das war im Moment das Einzige, was zählte. Cutter war am Leben. Geduldig und ruhig strich Cutter mir übers Haar und wartete, bis ich mich beruhigt hatte. Schließlich löste ich mich von ihm und ließ meinen Blick zu seinem Bauch wandern. Ich schüttelte ungläubig den Kopf „Was ist mit deiner Wunde? Ich verstehe das nicht. Du hättest ..." „Sterben müssen?", beendete er den Satz für mich. Ich nickte. Die Wunde war noch immer zu sehen. Getrocknetes, silbernes Blut klebte auf seinem Körper und sobald Cutter sich bewegte, quoll erneut Blut aus seinem Körper. Cutter drückte fest auf den Stich, um die Blutung zu stoppen, doch auf Dauer würde das nicht viel helfen. Er räusperte sich. „Nicht weit von hier ist der Fluss Kawaakari. Gleich dahinter liegt ein verlassenes Dorf. Ich bin sicher dort gibt es irgendwo Verbandszeug. Ich werde dir auf dem Weg alles erzählen, doch wir sollten jetzt besser aufbrechen. In Ordnung?" Noch immer überwältigt von all der Freude und Erleichterung, die nun in mir tobten, nickte ich. Schnell war ich auf den Beinen. Als ich sah, wie Cutter auf die Knie ging, eilte ich schnell zu ihm. Er stöhnte schmerzerfüllt und ich stützte seine Schulter, während er sich aufrichtete. Er streckte sich so gut er konnte und atmete erleichtert die kühle Nachtluft ein.
Bevor wir uns auf den Weg in Richtung Norden machten, blieb mein Blick jedoch auf der zweiten Gestalt haften, die wenige Meter neben uns im Gras lag – Curse. Sein Leichnam lag steif im Gras und das silberne Messer ragte aus seiner Brust. Auch Cutter betrachtete den Jungen mit der schwarzen Haut. Eine Hand auf seine Wunde gepresst ging er auf den Boten des Herrn zu. Zur Rechten des Toten kniete er plötzlich nieder. Sanft zog er das Messer mit der freien Hand aus Curses Herz und schob es in die Scheide an seinem Gürtel. Dann legte Cutter seine Hand auf die Stelle, wo das Messer soeben noch gesteckt hatte - auf Curse' Herz. Er schloss die Augen und reflexartig tat ich dasselbe. Ich faltete meine Hände und lauschte Cutters Worten.

Die Geheimnisse des HerrnWhere stories live. Discover now