Kapitel 6

26 0 0
                                    

Wir standen in der Tür und starrten in die Ferne, bis wir realisierten, was soeben geschehen war. Der Herr war fort und nun waren wir allein in diesem riesigen Haus. Der Himmel wurde dunkelrot, violett, schließlich schwarz. Nach und nach tauchten die ersten Sterne am Himmel auf. In Gedanken beobachteten wir das Farbenspiel des Himmels. Irgendwann wehte ein kräftiger Windstoß kühl in den Raum und wir fröstelten. So  schlossen wir schließlich die Tür und gingen in den Gemeinschaftsraum. Wie jeden Abend setzten wir uns vor den Kamin und sprachen miteinander. Heute drehten sich all die Gespräche um den Herrn. „Er war so riesig", sagte Mia und streckte ihren Arm weit nach oben, um die Größe des Herrn zu demonstrieren. „Ja und habt ihr gesehen, wie sein Bart zittert, wenn er spricht?" Wir stimmten kichernd zu. „Habt ihr seine Brosche gesehen?", meldete ich mich zu Wort und meine Schwestern nickten. „Ja, du meinst den Stern. Sie sah schön aus", bemerkte Jana. „Sie passt zu dem Buch!", rief Bianca und plötzlich wurde es ruhiger im Raum. „Zeig das Buch mal her", bat Kira und sofort legte unsere Kleinste das Buch auf den Tisch zwischen den Sofas. Alle standen auf und beugten sich  neugierig darüber.

„Wow", entfuhr es mir. Das Buch war wunderschön. Der Einband aus schwarzem Leder glänzte im Schein des Kaminfeuers und darauf glitzerten kleine, silberne Sterne. Ich streckte meinen Arm aus und fuhr vorsichtig mit den Fingern über ihre Umrisse. Manche waren größer, manche kleiner. Es wirkte, als hätte man ein Stück des Sternenhimmels genommen und es als Einband um eine Geschichte gelegt. Inmitten der Sterne glänzte der Titel des Buches in silbernen, geschwungenen Buchstaben – „Das Märchen des Mondes".

„Können wir gleich heute Abend daraus vorlesen?", fragte Mia flüsternd. „Klar!", stimmten wir zu. Wie auf Kommando hüpften wir alle vom Sofa und eilten in den Schlafsaal, um uns umzuziehen. Jede bekam von Celina eine Tasse heiße Schokolade gereicht und wir kuschelten uns gemütlich in unsere Betten. Eine nach der anderen reichte das Buch durch und betrachtete es kurz. Zum Schluss kam es bei mir an. Ich stellte meine Tasse ab, zog die Decke eng um meine Schultern und fuhr noch einmal über den Einband des Buches. Dann schlug ich es auf. Die Seiten machten knackende Geräusche, als hätte man das Buch seit Jahren nicht mehr aufgeschlagen. Langsam ließ ich die Seiten durch meine Finger gleiten. Das Papier war alt und vergilbt. Es fühlte sich rau an. Als ich einatmete, fiel mir auf, wie alt das Buch roch. Wieder blätterte ich durch das Buch, sodass die Seiten nach all den Jahren endlich wieder Luft holen konnten. Die Ecken jeder Seite waren mit filigranen, silbernen Linien geschmückt. Dünne Wellenmuster zogen sich an ihnen entlang. Nun schlug ich die erste Seite des Buches auf. Die schwarzen Buchstaben wirkten neben dem zarten Muster durchdringend und stark. Sie waren ebenso geschwungen, wie der Titel des Buches. Trotzdem fiel es mir leicht, die Worte zu lesen. Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, räusperte mich und begann zu lesen:

Es war einmal der Mond.

Umgeben von Millionen und Abermillionen von Sternen schwebte er am Himmel. Die Nacht war schwarz und die Sterne glitzerten hell. Dies freute den Mond. Er drehte sich um sich selbst und beobachtete, wie sie alle friedlich am Himmel standen. Es war ruhig und jeder Stern leuchtete. Sie bildeten Sternzeichen und Galaxien, wie es ihre Aufgabe war. Und er behütete sie, so wie es seine Aufgabe war. Der Mond achtete auf die Sterne und beschützte sie – Nacht für Nacht.

Jedoch gab es eine Ausnahme. Einmal im Monat ließ er die Sterne allein – in der Vollmondnacht. In diesen besonderen Stunden durfte er die Sterne verlassen. Die Seele des Mondes löste sich von dem felsigen, kalten Himmelskörper und entschwand. Sie verbrachte eine Nacht auf der Erde.

So trug es sich seit Jahrhunderten zu. Die Seele des Mondes verbrachte die Vollmondnacht bei den Menschen. Im Leuchten des Sternenlichtes erkundete sie die Welt, ihre Kontinente, ihre Ozeane und ihre Bewohner. Die Seele tarnte sich, nahm die Gestalt eines Menschen an und entdeckte immer mehr auf dieser Welt. Die Sterne funkelten stets über ihr.

Die Geheimnisse des HerrnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt