Kapitel 2

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Im Morgengrauen hörte ich das laute Klingen der Glocke, die uns jeden Morgen weckte. Ich atmete tief ein und blinzelte langsam, bis ich wach wurde. Dann stütze ich mich müde auf die Ellenbogen und schob meine Decke unordentlich hinter mich. Auch meine Schwestern waren aufgewacht. Als ich meine Füße auf den Boden stellte, streifte meine Kette kühl meine Zehen. Ich stand auf, streckte mich und gähnte ausgiebig. Als das Klingeln verstummte, waren wir alle auf den Beinen. Munter rief Mia: „Guten Morgen!", worauf elf weitere verschlafene „Guten-Morgen-Rufe" folgten. Wie jeden Morgen schlüpften wir in unsere Kleider und gingen gemeinsam ins Badezimmer. Hier stellte sich jede vor ein Waschbecken und machte sich frisch. Ich wusch mir das Gesicht und putzte meine Zähne. Im Spiegel konnte ich währenddessen das morgendliche Durcheinander hinter mir beobachten. Ständig rannte jemand durch den Raum, um irgendetwas in irgendwelchen Schränken zu suchen oder es wurde lautstark diskutiert, wer zuerst duschen durfte. Zwölf Mädchen einem Badezimmer – das konnte nur schief gehen. Schmunzelnd bürstete ich mir die braunen, langen Haare und band sie zu einem Zopf. „Leo, kannst du mir die Haare flechten?", fragte Luisa und ich nickte lächelnd. „Mir auch?" „Und mir auch?" Schließlich flocht ich sechs meiner Schwestern die Haare zu ihren Lieblingsfrisuren. Als alle zufrieden waren, verließ ich das Badezimmer und ging in den Gemeinschaftsraum. Morgens kümmerte sich jede selbst um ihr Frühstück, weshalb die meisten sich nun in der Küche befanden. Ich nahm mir jeden Morgen lediglich einen Apfel aus dem Obstkorb im Gemeinschaftsraum. Als die Sonne aufgegangen war und warmes Sonnenlicht durch die Fenster strahlte, versammelten wir uns alle wieder im Schlafsaal. Hier wartete Kira wie jeden Tag mit einer Liste, um abzuhaken, ob es allen gut ging. Falls wir krank waren oder es uns schlecht ging, wurde der Herr informiert. Kira hakte organisiert unsere Namen ab. Danach machte sie sich eilig auf den Weg ins Büro und wir betrachteten unsere heutigen Arbeitspläne.

Aufgaben, LEONA:

-Abstauben (Empfangsbereich)

- Lüften (Empfangsbereich)

-Kochen (Mittagessen – Reis und Gemüse)

-Pflanzen gießen (Gewächshaus)

-Pferde füttern und Wasser auffüllen

-Teller abräumen (Abendessen)

Ich faltete den Arbeitsplan und steckte ihn in die Tasche meines Kleides. „Ich bin im Empfangsbereich. Bis später!" „Bis später!", riefen die anderen mir hinterher. Da unser Zimmer in ersten Stock lag, rannte ich die Wendeltreppe in den Speisesaal hinunter. Dabei sauste der Lichtpunkt meiner Kette neben mir an der Wand entlang und meine Kette klapperte über die Treppenstufen.

Wenn man den Empfangsbereich unseres Zuhauses betrat, könnte man es beinahe für ein Hotel halten. Rechts neben der Eingangstür, einer schweren, großen Doppeltüre, war eine breite Theke aus dunklem Holz, fast wie eine Rezeption. Dahinter war die Tür zu Kiras Büro. Auf der linken Seite der Tür war eine Sitzgruppe aus dunkelroten Sofas, zwischen denen ein kleiner Tisch stand. Auf dem Boden lagen Teppiche mit verschnörkelten, rot-goldenen Mustern und an der Wand hing ein Gemälde von unseren Pferden. Ich öffnete die Fenster und begann dann damit, alles abzustauben. Diese Aufgabe war schnell erledigt, jedoch war sie auch recht langweilig (abgesehen von einem Niesanfall durch das Abstauben einer Vase). Schließlich wischte ich mit einem Tuch den Staub von der Rezeptionsklingel, die auf der Theke stand. In ihr spiegelte sich nun das Licht, das zum Fenster hereinfiel. Meine Aufgabe war hiermit beendet und ich schloss die Fenster des Empfangsbereiches wieder. Bevor ich in die Küche ging, beschloss ich jedoch, nach Kira sehen. Also ging ich hinter die Theke und klopfte dreimal an die Tür ihres Büros. „Komm herein!", hörte ich Kiras Stimme gedämpft durch die Tür. Also drückte ich die goldene Türklinke herunter. Die Tür quietschte, als ich sie öffnete. Kira lächelte mich kurz an, richtete den Blick jedoch sogleich wieder ernst auf das Blatt Papier vor ihrer Nase. „Hey, was ist los?", fragte sie monoton. Beschäftigt saß sie hinter ihrem Schreibtisch, auf welchem sich Stapel und ganze Türme von Blättern häuften. Dort lagen Listen, Texte und Notizen mit Zahlen und Nummern, die ich nicht verstand. Auf dem Boden stand ein hoffnungslos überfüllter Papierkorb, dessen halber Inhalt auf dem Boden verstreut war und neben dem Schreibtisch warteten noch mehr Stapel darauf, gelesen zu werden. „Eigentlich nichts. Ich wollte nur nach dir sehen. Geht es dir gut?" Kira sah mich erneut an und warf mir seufzend einen erschöpften Blick zu. Sofort bahnte ich mir einen Weg durch die Blätterhaufen, was meine Kette jedoch enorm erschwerte. Ich bückte mich und hob diese in die Luft, um besser über die Papierberge steigen zu können. Schließlich war ich bei meiner Schwester, hinter dem Schreibtisch angelangt und ließ meine Kette mit einem Rasseln wieder zu Boden fallen. Nun sah ich meine Schwester an. „Komm schon Kira, was ist los? Irgendwas stimmt nicht mit dir. Du bist der ordentlichste Mensch, den ich kenne, aber in letzter Zeit wirkst du gestresst." Verlegen wendete Kira den Blick ab. Sie zerknüllte das Blatt, welches sie eben noch ernst studiert hatte und ließ es neben den überfüllten Mülleimer fallen. Schließlich seufzte sie tief. „Ehrlich gesagt kann ich dir auch nicht sagen, was los ist. Der Herr gibt mir so viele Aufgaben, dass ich gar nicht mehr hinterherkomme. Er verhält sich anders in letzter Zeit. Er ist hektisch und gestresst. Ich weiß nicht, was er hat." Ich warf noch einen Blick auf das Papierchaos im Raum. Dann sah ich wieder in Kiras braune Augen. „Mach dir nicht so viele Gedanken. Wenn der Herr jemandem seine Geheimnisse anvertraut, dann bist du das. Alles wird gut und wenn du Hilfe brauchst, sag uns Bescheid. Wir helfen dir gerne." Ich stand auf und sammelte den Müll ein, der auf dem Boden lag. Mit etwas Gewalt schaffte ich es sogar, all die faustgroßen Papierknäule in den Mülleimer zu zwängen. Kira nickte und lächelte dankbar. „Danke Leo." Sie zwinkerte und ich schloss leise die Tür, als ich das Büro verließ. Ich seufzte und machte mich auf den Weg in die Küche. Dort traf ich Luisa. Heute würden wir beide zusammen kochen. Während wir das Gemüse schnitten, dachte ich noch einmal über Kiras Worte nach. Der Herr verhielt sich anders als sonst. War etwas passiert? Würde etwas passieren? Naja, es ging uns bestimmt sowieso nichts an. Es ging uns nie etwas an. Wie einen Kloß schluckte ich meine Neugier hinunter und unterhielt mich stattdessen mit Luisa.

Die Geheimnisse des HerrnWhere stories live. Discover now