Kapitel 10

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Das Mondlicht schien hell zum Fenster hinein. Die Umrisse der Fenster zeichneten sich auf dem Boden und an den Bücherregalen ab. Im Glas der Öllampe spiegelte sich der Mond als kleiner, weißer Punkt. Das Büro des Herrn war in kühles, nächtliches Licht getaucht, sodass es schon fast magisch wirkte. Ich ließ meine Kette fallen, welche leise rassele und im Mondlicht silbern glänzte. Dann ging ich auf das Fenster zu. Dieses funkelte ebenfalls, fast als bestände es aus Sternen. Mit einem Ruck öffnete ich es und wartete auf den weißen Raben.

Kaum ein Moment verging, da landete dieser elegant auf dem Fensterbrett. Noch einmal flatterte er mit seinen, großen, weißen Engelsflügeln, doch dann faltete er sie ordentlich auf seinem Rücken. „Hallo, kleiner Freund", flüsterte ich und strich mit den Fingern über sein Gefieder. Als Antwort gab er ein leises Krähen von sich. „Bist du bereit?", fragte ich ihn und er blinzelte mit seinen nachtblauen Augen zu mir hinauf. „Gut, dann geht's jetzt los." Ich streckte meinen Arm aus. Der Rabe verstand sofort, machte einen Satz und hüpfte auf meinen Unterarm. Ich spürte, wie sich seine Füße in meine Haut krallten, doch es tat nicht weh. Außerdem spürte ich das kalte Eisen des Rings, den er an seinem Fuß trug. Er schmiegte seinen Kopf liebevoll an meine Schulter und zusammen machten wir den ersten Schritt. In einer Hand hatte ich die Kerze, auf dem anderen Arm saß mein kleiner Freund. Langsam lief ich im Kerzenschein auf die Treppe zu. Es war eine verrostete, aber elegante, Wendeltreppe, die in der dunklen Ecke des Raumes auf mich wartete. Die Zeit schien still zu stehen, während ich lautlos einen Fuß vor den anderen setzte. Und dann stand ich vor der Treppe. Die erste Stufe war genau vor meinen Füßen. Ich zögerte. War es wirklich richtig nach oben zu gehen? Was würde mich dort erwarten? Meine Hände begannen zu zittern und ich bemerkte, wie die Flamme der Kerze hektisch züngelte. Nein, ich war so weit gekommen. Ich musste einfach nach oben gehen. Der weiße Rabe schloss seine Krallen noch ein Stück fester um meinen Arm und ich atmete tief ein. Dann atmete ich langsam aus und setzte meinen Fuß auf die erste Treppenstufe.

„Eins, zwei, drei." In Gedanken zählte ich die Treppenstufen, während ich vorsichtig nach oben ging. Meine Kette kratzte auf den verrosteten Stufen, aber ich nahm das Geräusch kaum wahr. „Sechs, sieben, acht". Ich hörte, wie ich gespannt atmete und wie mein Herz immer schneller klopfte. Mit jedem Herzschlag zitterte meine Hand mehr. Nervös flatterte der Rabe mit den Flügeln. Außerdem machte er unruhige Schritte auf meinem Arm. Er war genauso aufgeregt, wie ich. „Zehn, elf, zwölf." Wir waren fast oben. Nur noch ein paar Stufen. „Fünfzehn, sechzehn, siebzehn". Und da war sie. Die achtzehnte Stufe. Ich war schon fast oben, doch ich wagte noch keinen Blick hinauf. Ich hielt den Blick stur auf die oberste Stufe der Wendeltreppe gerichtet. Sollte ich das Obergeschoss wirklich betreten? Mein kleiner Freund krähte leise und ich machte einen tiefen Atemzug. Ja, ich musste es einfach betreten. Und dann ging ich die letzte Stufe nach oben – die achtzehnte Stufe.

Das Obergeschoss war riesig. Es war ein einziger, riesengroßer Raum. Der Boden war aus weichem, hellem Holz und die niedrigen Wände waren grau und schlicht. Ich ließ meinen Bick zur Decke wandern. Und dann sah ich das, was mich am meisten begeisterte. Das Dach des Hauses war eine riesige Kuppel aus Glas. Von unten hatte ich sie noch nie gesehen, doch es war wunderschön. Fasziniert sah ich nach oben. Der Mond schien silbern durch das Glas und ich konnte jeden einzelnen Stern erkennen, der hoch oben am Himmel funkelte. Noch nie war ich den Sternen so nah gewesen. Ich stand genau unter ihnen und es fühlte sich fast so an, als schienen sie heute Nacht nur für mich. „Das ist wunderschön", flüsterte ich und mein kleiner Freund schmiegte sich an meine Schulter. Er schien genauso fasziniert, wie ich. Es war still hier oben und wir standen eine Weile da, um diesen Anblick zu genießen. Der Mond und die Sterne – alle schauten sie auf die Erde, auf dieses Haus, auf den weißen Raben und mich.

Irgendwann wurde ich jedoch neugierig und ließ meinen Blick weiter durch den Raum schweifen. In der Mitte des Obergeschosses standen einige Tische in einem Kreis, doch diese wollte ich mir erst später ansehen. Ich hatte noch etwas anderes gesehen, dass mich interessierte. In der Ecke des Raumes, nicht weit von der Treppe, stand ein kleines Feldbett an der Wand. Schlief dort etwa der Herr? Ich ging darauf zu und während ich lief, flatterte der weiße Rabe von meinem Arm. Er umkreiste mich einmal und landete schließlich auf einem kleinen, dreibeinigen Schemel, welcher neben dem Bett stand. Ein Kissen und eine smaragdgrüne Decke lagen ordentlich aufgeschüttelt und gefaltet auf dem Feldbett. Der Schemel diente offenbar als Nachttisch. Eine Öllampe, ein Buch und ein Foto lagen darauf. Im Kerzenschein nahm ich das Buch in die Hand. Ein schwarzer Ledereinband mit silbernen Sternen. Und in geschwungener Schrift stand darauf „Die Mythen des Errai". „Noch so ein Buch", flüsterte ich dem Raben zu. Ich setzte mich auf das Bett und blätterte durch die Seiten. Es sah genau aus wie „Das Märchen des Mondes" und „Rana's Abenteuer". Es musste einfach einen Zusammenhang zwischen ihnen geben. Zu diesem Zeitpunkt war mir jedoch noch nicht bewusst, dass ich schon bald mehr darüber herausfinden würde. Also blickte ich auf und sah den weißen Raben an. Tock! Tock! Tock! Dieser klopfte mit seinem Schnabel auf das Foto, das ebenfalls auf dem Schemel lag. Vorsichtig legte ich das Buch zurück und nahm stattdessen das Foto in die Hand. Ich warf einen Blick darauf und riss erstaunt meine Augen auf. „Das sind wir. Das sind meine Schwestern und ich." Erstaunt blinzelte ich einige Male, doch es war wirklich so. Der Herr hatte ein Bild von uns auf seinem Nachttisch. Es war dasselbe, das auch in unserem Schlafsaal hing. Es zeigte uns alle, wie wir im Gewächshaus standen, umgeben von den schönsten Blumen. Ich konnte nicht fassen, dass es hier lag. Mit meinem Daumen strich ich über das Foto und rätselte: „Vielleicht bedeuten wir ihm ja doch mehr, als er zeigt... Aber wieso hält der Herr dann alles vor uns geheim?" Der Rabe flatterte auf das Bett und hüpfte auf meinen Schoß. Er legte den Kopf schief und sah das Bild an. Dann tippte er vorsichtig mit dem Schnabel auf die Stelle des Fotos, an der man mich sah. Ich musste lachen und gab zu: „Ja, da bin ich. Du kannst dir nicht vorstellen, wie müde ich an dem Tag war. Wir sind wahnsinnig früh aufgestanden, um uns für das Bild zurecht zu machen." Der Rabe drehte sich um und sah mich an. Ich kraulte seinen Nacken und überlegte: „Vielleicht erzählt uns der Herr mehr über sich, wenn er wieder zurück kommt, wer weiß? Wir scheinen ihm jedenfalls mehr zu bedeuten, als er zugibt." Auch das Foto legte ich nun behutsam zurück an seinen Platz. „Wir sollten uns weiter umsehen, kleiner Freund." Wie auf ein Kommando entfaltete der Rabe seine Flügel und flog durch den Raum. Ich stand ebenfalls auf und mit einem letzten Blick auf das Foto, ging ich auf die Tische in der Mitte des Raumes zu.

Die Geheimnisse des HerrnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt