Kapitel 20

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Es fühlte sich an, als wäre mein Herz stehen geblieben. Schlagartig wurde es mir bewusst. Der Herr suchte etwas. Er suchte sein Notizbuch. Ich ließ die Box in meiner Hand fallen und tastete panisch nach dem Notizbuch in meiner Tasche. Da war es. Ich spürte den Ledereinband und die trockenen Seiten des Papiers. Mein Herzschlag wurde schneller. Nur gedämpft hörte ich den Aufschlag der Stiftebox auf dem Boden. Viel mehr nahm ich war, wie meine Atmung immer unruhiger wurde und, wie meine kalten Fingerspitzen begannen, zu zittern. In diesem Moment krachte etwas über dem Sofa und ich fuhr herum. Der Herr suchte sein Notizbuch und er würde herausfinden, dass ich es hatte. Spätestens wenn er die Ketten kontrollierte, wusste er, dass ich in seinen Gemächern gewesen war. Panisch überlegte ich, was ich tun sollte. Ich konnte es nicht zurück in seine Gemächer bringen, solange er sich darin befand. Ich konnte es nicht wegwerfen. Er würde wissen, dass ich es genommen hatte. Ich saß in der Klemme. „Du musst hier raus! Du musst fort von hier! Lauf!", rief plötzlich eine Frauenstimme in meinem Kopf. Nun begann ich am ganzen Körper zu zittern. Es war die Frauenstimme aus meinem Traum. Was hatte ich getan? Warum hatte ich das Notizbuch überhaupt an mich genommen? Und nun hörte ich auch noch seltsame Stimmen! Plötzlich hörte ich einen Schrei aus dem Dachgeschoss – einen Wutschrei. Und darauf folgte ein weiteres Krachen. Zitternd ging ich in die Knie und hielt mir die Ohren zu. Ich starrte auf den Boden. Der Herr war wütend, weil ich sein Notizbuch gestohlen hatte. Noch heute würde er es herausfinden, denn heute würde er die Ketten überprüfen. Mir musste etwas einfallen. Ich musste etwas tun. In diesem Moment suchte der Herr noch in seinen Gemächern. Das bedeutete, ich hatte noch so viel Zeit, bis er die Ketten kontrollierte. Diese Zeit musste  ich nutzen, um mich zu beruhigen und mir einen sicheren Plan auszudenken, doch plötzlich unterbrach mich die Frauenstimme in meinem Kopf erneut: „Lauf, Leona! Los, lauf!" Ich drückte meine Hände stärker gegen meine Ohren und schloss die Augen. „Raus aus meinem Kopf", fuhr ich die Frau an, doch sie hörte nicht auf mich und rief noch einmal: „Lauf!" Und ich lief.
Ich zögerte nicht länger. Ich hörte auf die Stimme. Die Hände zu Fäusten geballt rannte ich die Treppe in den Speisesaal hinab. Meine Kette rasselte laut auf den Stufen, doch es war mir egal. Die letzten drei Stufen hüpfte ich mit einem großen Satz hinunter. Ich kontrollierte, ob das Notizbuch noch in meiner Tasche war, doch dann eilte ich in den Ballsaal. Bianca. Sie stand da und putzte die Fenster. „Bianca", flüsterte ich erst. Sie hörte mich nicht. Also wiederholte ich noch einmal lauter: „Bianca!" Sie sah mich an. „Leo, du zitterst. Was ist los?" Ich ging zu ihr und packte ihre Hände, doch bevor ich etwas sagen konnte, ertönte ein weiterer Schlag von oben und der Kronleuchter an der Decke des Ballsaals vibrierte. Die Kristalle, die an ihm baumelten, schlugen gegeneinander und ein Klirren erklang über uns. Verwundert sah Bianca nach oben und legte ihre Stirn in Falten. „War das der Herr?", fragte sie und blitzschnell antwortete ich: „Ja und er sucht sein Notizbuch!" Ich machte eine kurze Pause, doch bevor meine Schwester etwas sagen konnte, ergänzte ich: „Sobald er sich meine Kette ansieht, wird der Herr wissen, dass ich sein Notizbuch gestohlen habe. Er wird sehen, dass ich seine Gemächer betreten konnte. Und diese Frauenstimme, von der ich geträumt habe, sie spricht plötzlich zu mir. Sie sagte, ich muss fort von hier!" Bianca sah mich geschockt an, doch sie verstand und sie suchte nach einer Lösung. Blitzschnell ließ sie ihren Blick durch den Raum wandern, während sie nachdachte. Schließlich sah sie mich an. „Dann hörst du auf sie." Meine Kinnlade klappte geschockt nach unten. Zuerst schaffte ich es nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Erst nachdem ich noch einmal die Augen geschlossen und mich gefasst hatte, fragte ich: „Was!?" „Leo, du hörst jetzt auf diese Stimme." Fast als wolle der Herr Bianca Recht geben, erklang genau in diesem Moment ein letzter Schlag über uns. „Das kannst du nicht ernst meinen. Was wenn ich eigentlich verrückt bin und diese Stimme nur in meinem Kopf existiert?" Bianca verdrehte seufzend die Augen. Dann legte sie mir die Hände auf die Schultern. „Leo, diese Stimme existiert nur in deinem Kopf, aber das ist kein Grund, nicht auf sie zu hören. Und wie Eli immer sagt, Verrücktsein muss nichts Schlechtes sein! Komm mit!" Sie nahm mich an der Hand und zog mich eilig in das Badezimmer für Gäste. Dann schloss sie die Tür, sodass wir unter uns waren. Wir setzten uns auf den Rand der Badewanne und Bianca sah mir tief in die Augen: „Leo, du hörst mir jetzt ganz genau zu. Vor einigen Wochen, hätte ich dem Herrn blind vertraut, dass er uns beschützen will und, dass er möchte, dass es uns gut geht. Heute möchte ich wissen, wer der Herr ist und was er für Geheimnisse vor uns hat." Ich wollte sie unterbrechen, doch meine Schwester hob die Hand und fuhr fort: „ Ich glaube nicht, dass es Zufall war, dass du die Gemächer des Herrn betreten konntest. Ich glaube auch nicht, dass es Zufall war, dass du sein Notizbuch gefunden hast. Ich glaube nicht, dass deine Beziehung zu dem weißen Raben Zufall ist und ich glaube nicht, dass es Zufall ist, dass diese Frau zu dir spricht. Leo, du bist diejenige, die die Geheimnisse des Herrn lösen kann. Das weiß ich. Und wenn diese Frau sagt, du musst fort von hier, dann wirst du fort von hier gehen. Leona, mach' deine Kette kaputt und lös' die Geheimnisse des Herrn. Ich glaube an dich und es wird Zeit, dass du das auch tust!"

Die Geheimnisse des HerrnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt