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In der vierten Stunde hatte ich Mathematik bei Mr. Harret. Ich setzte mich auf meinen Platz. Neben mir saß Alex, die ich vollkommen verdrängt hatte. Sie ist der aufdringliche Fan meines Dads, die ich am Montag in der ersten Stunde kennen gelernt hatte.

„Hallo Chloe, wie geht's dir?", begrüßte sie mich strahlend und ich legte lächelnd meine Bücher auf den Tisch.

„In Anbetracht der Tatsache, dass wir jetzt Mathe haben: Ich könnte Freudensprünge machen!"

Meine Stimme triefte vor Sarkasmus, obwohl ich stets lächelte.

„Hahaha, ja du hast recht!", stimmte sie mir zu.

„Schönes Kleid übrigens", sagte ich und erfüllte damit schon direkt meinen Vorsatz für den Tag. Sie lächelte.

„Hat mir meine Oma geschenkt. Was macht dein Vater eigentlich gerade?"

„Das darf ich niemandem erzählen, strengstes Filmgeheimnis."

Ich machte eine bedeutungsvolle Geste mit der Hand, um meine Worte zu unterstreichen und Alex lachte.

„Ja stimmt, du hast recht."

Ich fragte mich, ob es möglich war, eine Konversation mit ihr zu führen, ohne dass sie mir ständig zustimmte. So etwas wie ein „Filmgeheimnis" gibt es meines Wissens nach nämlich gar nicht. Ich muss zugeben: Vielleicht hatte ich gelogen, um keine unangenehmen Fragen über meinen Dad beantworten zu müssen. Aber Alex schien zufrieden. Und ich hatte eh keine Zeit mehr, das aufzuklären, da in diesem Moment Mr. Harret in den Klassenraum kam.

In der Mittagspause traf ich mich mit Nate in der Kantine.

„Eins muss man dieser Schule lassen: Das Essen ist echt gut!", sagte ich und schob mir noch ein Stück Kartoffel in den Mund.

„Naja, es geht halt", meinte Nate und zog die Augenbrauen hoch.

„Ach, sag bloß! An meiner alten Schule gab es nur ein Gericht pro Tag und nicht so viel Auswahl wie hier, also sei nicht so wählerisch!"

Nate hob die Hände.

„Sorry, Mom!"

Er schmunzelte und ich schlug lachend seine Hände runter.

„Nicht so aggressiv, Prinzessin!", ermahnte er mich tadelnd.

„Ich bin nicht aggressiv!"

Ich verschränkte schmollend die Arme vor der Brust, wie ein kleines Kind.

„Nur temperamentvoll", fügte ich hinzu und er musste schmunzeln. Nach einer kurzen Stille ergriff ich wieder das Wort.

„Findest du eigentlich, wir sollten mehr Komplimente machen?"

„Ist das wieder das Gleiche, wie heute morgen? Natürlich sollte man mehr Komplimente machen. Jeder hier sollte mehr Komplimente machen!", sagte Nate überschwänglich und deutete mit seinen Händen dabei auf die anderen Schüler in der Kantine.

Ich nickte.

Nate gehörte genau zu der Sorte von Leuten, mit denen man gerne redete. So wie diese Empfangsdamen beim Arzt. Ich rede gerne mit ihnen, weil sie mir immer erst nur zuhören, und dann versuchen zu helfen. Und weil sie mich ernst nehmen müssen. Das ist ihr Job. Und mit Nate redete ich auch einfach gerne. Ich weiß nicht, woran es lag, oder ob es nur mir so ging, aber eins stand fest: Ich hatte echt Glück, ihn kennenzulernen.

〇〇〇〇〇

„Hey Chloe, hier bin ich!", rief Nate. Es war Schulschluss und wir waren verabredet, weil er mir seinen „geheimen" Ort zeigen wollte. Unter einem geheimen Ort stellte ich mir eine kleine Waldlichtung oder einen glitzernden See vor. Obwohl das mit dem See keinen Sinn ergeben würde. Man kann ja nicht der einzige Mensch sein, der einen See kennt. Das ist schließlich keine Pfütze, die alle Anderen einfach übersehen. Wahrscheinlich habe ich einfach zu viele Romanzen gelesen und Nate möchte mir nur eine staubige Abstellkammer zeigen. Bei dem Gedanken verzog ich das Gesicht.

„Wohin geleiten sie mich denn heute?", fragte ich ihn und er gab mir einen leichten Kuss auf die Hand, was sich anfühlte, als hätte ich Krätze, da meine Hand kribbelte wie verrückt. Versteht mich nicht falsch, ich hatte noch nie Krätze. Ich weiß dementsprechend auch nicht, wie es sich anfühlt, aber es ist bestimmt unangenehmer als Nates Kuss. Viel unangenehmer.

„Lassen sie sich überraschen. Folgen sie mir einfach."

Ich musste schmunzeln und folgte Nate in Richtung Straße. Innerlich hoffte ich nur, dass wir nicht so lange gehen würden. Ich war ziemlich fertig von dem Schultag und hatte keinen Nerv auf einen Fünf-Meilen-Marsch. Zum Glück war das Schicksal anscheinend gnädig mit mir, denn nach zehn Minuten blieb Nate stehen.

Wir waren an einem, auf den ersten Blick verlassenen, Jahrmarkt angekommen. Das, was sich mir da bot, war gespenstisch. Fast wie im Film. Alte Fahrgeschäfte und Snack-Buden. Der Wind blies durch das Kettenkarussell, sodass die einzelnen Schaukeln sich leicht bewegten. Der Anstrich an den Gebäuden war an den meisten Stellen schon längst abgeblättert und darunter kam ein schäbiges Grau zum Vorschein. An manchen Attraktionen hingen die Glühbirnen halb herunter und die Musikboxen waren zum Teil demoliert. Ich wandte mich mit einem fragenden Ausdruck auf dem Gesicht Nate zu. 


„Das ist dein geheimer Ort? Ein verlassener Jahrmarkt?", fragte ich und er schüttelte verheißungsvoll den Kopf. Dann führte er mich zu einem Loch im Absperrzaun und kletterte hindurch.

Ich hinterfragte den Sinn dieses Zaunes, der einmal um den kompletten Platz verlief, da er an mehreren Stellen Lücken zu haben schien. Wenn hier also nirgendwo ein Alarm oder eine Überwachungskamera befestigt war, würde es wohl nicht so schlimm sein, hineinzugehen. Sonst wären bestimmt weitere Sicherheitsmaßnahmen getroffen worden. Um ganz sicher zu gehen, dass sich nicht doch irgendwo eine Kamera befand (zumindest nicht in meiner Sichtweite) schaute ich mich noch einmal um. Ich konnte nichts entdecken. Naja, dann würde es wohl in Ordnung sein.

„Kommst du heute noch?", fragte Nate und ich kletterte durch das Loch im Zaun. Nate lotste mich an den Fahrgeschäften vorbei und ich war gespannt, wohin er mich führen würde. Dann blieb er stehen. Vor uns erstreckte sich eine Achterbahn. Der Wagon war auf halber Strecke stehengeblieben und am Anfang ging es Steil bergab. Eine Wendeltreppe führte nach oben, von der wir nur die ersten Stufen sehen konnten, da sie in einer Art Holzkasten steckte, der in Richtung Himmel gebaut worden war. Man konnte das Ende zwar noch sehen, aber wenn ich nach oben schaute, wurde mir schon etwas schwindelig. Obwohl ich eigentlich keine Höhenangst hatte. Die Achterbahn war grün und riesig. Sie erstreckte sich über den gesamten Freizeitpark und ich wäre zu gerne damit gefahren, wenn sie nicht außer Betrieb gewesen wäre. Wenn nicht der ganze Jahrmarkt außer Betrieb wäre.

„Pass auf der Treppe auf, man verliert schnell das Gleichgewicht", sagte Nate, bevor er auch schon anfing die Stufen herauf zu gehen.

„Warte was? Darf man da überhaupt drauf? Nate!"

Nate ignorierte mich konsequent, also hatte ich keine andere Möglichkeit, als ihm hinterher zu gehen. Ich hatte mühe, ihm zu folgen, da die Stufen wirklich sehr klein waren. Nach ca. 30 Stufen war ich etwas außer Atem von dem schnellen Tempo.

„Wie viele Stufen gibt es noch, ich kann nicht mehr, ich...", jammerte ich, doch Nate unterbrach mich.

„Wir sind da"

Ich blieb stehen und bemerkte, dass ich tatsächlich endlich auf der letzten Stufe angekommen war. Und der Ausblick, der sich mir nun bot war fantastisch.

Manchmal trägt das Glück Socken in SandalenWhere stories live. Discover now