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„Guten Morgen, Schätzchen", sagte Dad, als ich in die Küche kam. Ich war gestern so früh eingeschlafen, dass ich nun hellwach war.
„Guten Morgen, Dad!"

Ich goss mir ein Glas Orangensaft ein und setzte mich an den Tisch. Es war noch ziemlich früh, da ich früher als sonst aufgewacht war.

„Und, was hast du am Wochenende so vor?", fragte Dad.

Merkt euch eins: Wenn Eltern das fragen und euch dabei nicht in die Augen sehen, sondern betont unauffällig mit etwas Anderem beschäftigt sind, dann wollen sie wissen, ob ihr euch mit einem Jungen trefft. Dankt mir später.

„Nichts. Vielleicht unternehme ich etwas mit Evelyn und den anderen."

Ich wusste auch nicht. Evelyn war zwar nett, aber der Rest der Clique war normalerweise nicht so mein Fall. Aber was heißt hier überhaupt „normalerweise"? Pff...Normalerweise hatte ich überhaupt keinen „Freundeskreis", sondern höchstens eine gute Freundin. 

Das war zumindest in meiner alten Schule so. Wenn man also überlegte, dass ich in vier Tagen mehrere neue Freunde gefunden hatte, war das schon ziemlich überraschend für meine Verhältnisse. Ich würde nicht sagen, dass ich an meiner alten Schule so richtig unbeliebt gewesen war, aber die Leute sprachen mich nicht an. Ich war für die meisten die eingebildete Filmstar-Tochter, die alles bekam, was sie wollte. Dabei entsprach das überhaupt nicht der Wahrheit. 

Meine Mitschüler hatten anscheinend zu viele High-School-Filme auf Netflix geschaut. Ein Filmstar war mein Vater zu der Zeit übrigens auch noch nicht. Er hatte gerade seine ersten Hauptrollen bekommen und war noch nicht so bekannt. Doch das schien die wenig sozialen Jugendlichen an meiner Schule zu stören. 

Vielleicht ist es ein Gen in uns Menschen. Wir brauchen einfach jemanden, über den wir lästern können. Jemanden, der uns das Gefühl gibt, stärker und überlegen zu sein - jedenfalls in der imaginären Beliebtheits-Rangliste. 

So wie hier in L.A. Blondie und Katzenauge. Ihr Hobby war es anscheinend, alle anderen Schüler zu übertreffen. Keine Ahnung, ob es ihnen Spaß machte oder sie süchtig danach waren. Als wäre es eine Art Droge, andere Leute fertig zu machen. Vielleicht war es ja so. Okay, es war eher die unwahrscheinlichere Möglichkeit, aber sie bestand durchaus. Das erinnerte mich an die Sätze meiner Mutter, die sie in ihren Abschiedsbrief an mich geschrieben hatte.

„Auch, wenn du ziemlich frech bist, versuchst du immer das Gute in den Menschen zu sehen. Du gräbst in deinem Gehirn nach Erklärungen, bis du irgendetwas findest. Du bist überzeugt davon, dass jeder Mensch wenigstens einen Funken Gutes in sich trägt. Und genau das bewundere ich an dir. Doch merke dir: Es wird leider auch böse Menschen geben. Wenn auch noch nicht jetzt. Ich liebe dich."

 Bei dem Gedanken an die letzten persönlichen Zeilen, die ich von ihr gelesen hatte, wurde mir warm ums Herz. Meine Mom kannte mich besser, als jeder Andere. Obwohl mein Dad und ich ebenfalls eine starke Bindung hatten, war es mit meiner Mom immer etwas anderes gewesen. Sie verstand mich. Und zwar nicht so, wie von Mutter zu Tochter, sondern wie sich zwei Freundinnen verstehen. Und damit meine ich nicht diese Mutter-Tochter- Beziehungen, bei denen die Tochter ihrer Mutter ausführlich von ihrem ersten Kuss erzählt. Wir hatten die Art von Beziehung, die meistens schweigsam verlaufen ist. Wir haben uns auch ohne Worte verstanden. 

Ich wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel und sah, wie Catherine, die gerade aus dem Badezimmer kam, mich mitleidig anschaute. Das war typisch. Sie hatte keine Ahnung, was los war und lächelte mich trotzdem mitfühlend an. Also entweder konnte sie Gedanken lesen, oder sie versuchte einfach, nett zu sein. Sie schien etwas unsicher, also lächelte ich übertrieben breit und strahlend zurück.

Sie guckte sofort weg. 

„Na schön, viel Spaß in der Schule, Schätzchen", verabschie-dete sich Dad und gab Catherine noch einen Kuss. Dann nahm er seine Tasche und ging.

„Warum muss er so früh los?", fragte ich Catherine, während ich mein leeres Glas Orangensaft in die Spülmaschine stellte.

„Keine Ahnung. Ein besonderer Drehtag?", sagte Catherine halb feststellend, halb fragend und ging zurück ins Badezimmer. Ich wusste mittlerweile, wie lange Catherine zum Fertigmachen morgens brauchte. Ihr Rekord lag bei knapp einer Stunde.

 Tja, ich nahm an, sie durfte nicht ungeschminkt und perfekt gestylt bei ihrer Arbeit auftauchen. Ein weiterer Grund, warum ich niemals Model werden würde. Selbst wenn ich es wollte, was ich ganz sicher nicht tat. Allein schon bei dem Gedanken daran, Lippenstift aufzutragen wurde mir übel. Wusstet ihr, dass man im Laufe seines Lebens ungefähr 3,5 Kilogramm Lippenstift isst? Vorausgesetzt, man benutzt ihn jeden Tag. Und genau deshalb werde ich das lieber lassen. 

Ich stellte die Orangensaft-Packung wieder in den Kühlschrank und dabei fiel mir der Text auf der Rückseite auf.

Machen sie mehr Komplimente! Komplimente geben: Kraft, Glück und ein wunderbares Gefühl! Genau wie die frischen Säfte von Sonette. Komplimente sind etwas Schönes, also kaufen sie einen Saft von Sonette und legen sie los!

Ich musste schon sagen: Diese Werbung war echt bescheuert. Als würde Irgendjemand den Text auf einer Saftpackung lesen und ernsthaft darüber nachdenken.

Doch genau das tat ich auf dem Hinweg zur Schule. Ich muss zugeben, ich stand nicht sehr lange hinter meiner Meinung, aber mein Gehirn denkt oft an Dinge, über die ich gar nicht nachdenken will. Es erinnert mich für meinen Geschmack nämlich zu sehr an traurige oder peinliche Ereignisse. Jedenfalls dachte ich tatsächlich sehr lange darüber nach. Fragt mich nicht, was es bei dem schlechten Slogan so viel zu Grübeln gibt. Aber es war ja schon irgendwie etwas Wahres daran. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn es nur noch Komplimente gäbe und keine Beleidigungen mehr. 

Würden die Komplimente dann ihren Reiz verlieren? Wäre es dann nichts Besonderes mehr, ein Kompliment zu bekommen? 

Ich wusste es nicht. Ich beschloss aber, mir für den restlichen Tag vorzunehmen, mehr Komplimente zu machen. Diese Erkenntnis musste ich in der Schule gleich mit Nate teilen. Da passte es ziemlich gut, dass ich ihn vor der Schule traf.

„Meinst du, wenn man ein Kompliment bekommt ist man glücklich?", fragte ich und er zog scherzhaft die Augenbrauen hoch.

„Dir auch einen guten Morgen, Chloe. Ja, mir geht es gut und dir? Das ist aber schön! So, jetzt können wir mit den verwirrenden Themen beginnen wie zum Beispiel mit...was sagtest du noch gleich?"

Ich verdrehte schmunzelnd die Augen.

„Meinst du, wenn man ein Kompliment bekommt ist man glücklich?"

Nate wartete einen Moment, bevor er antwortete.

„Glück ist relativ. Es bedeutet für jeden etwas anderes."

„Oh, haben wir unsere Meinung zu dem Thema etwa geändert?", fragte ich überrascht und legte den Kopf schief.

„Nicht geändert, aber etwas modifiziert."

„Also doch geändert", neckte ich ihn und er gab mir einen Stoß in die Seite. Dann betraten wir das Schulgebäude. 

Manchmal trägt das Glück Socken in SandalenWhere stories live. Discover now