Chapter 72

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"Du siehst so schön aus!" sagte Julie und wischte sich eine Träne von der Wange.
Ich schaute die junge Frau im Spiegel an. Die Frau die morgen heiraten würde. Die Frau die ein Kind gebären würde. Die Frau die ein Haus hatte. Die Frau die Sicherheit hatte. Die Frau war ich. Aber ich fühlte mich nicht wie die Frau. Ich fühlte mich wie jemand der von oben auf die Frau runter sah und gespannt war was als nächstes passierte. Ich fühlte mich wie als würde ich einen Film schauen oder ein Buch lesen. All das interessierte mich, aber trotzdem fühlte es sich so an, als würde das gar nichts mit mir zu tun haben. Als würde nicht ich morgen heiraten, sondern die Frau im Spiegel.

"Sind Sie zufrieden? Muss noch irgendwas geändert werden?" fragte mich die Schneiderin. "Nein. Es ist perfekt! Genau in dem Kleid möchte ich morgen heiraten!" antwortete ich, sagte es aber mehr zu mir selbst. Dann zog ich das Kleid wieder aus und hängte es sorgfältig in den Kleidersack zurück.
"Wenn ich jetzt schon weine, wie wird denn das dann morgen?" fragte Julie und wischte sich eine weitere Träne weg. "Aww" sagte ich und zog mir schnell mein Top an. Dann umarmte ich Julie und weinte mit ihr. Vor Freude natürlich.

Ich war total bereit Lukas zu heiraten aber irgendwie auch nicht. Ich meine, ich liebe ihn wirklich und ich kann mir kein Leben mehr ohne ihn vorstellen, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass alles so schnell ging. Ich bin schwanger, werde heiraten, werde mit Lukas in einem eigenen Haus wohnen und werde einen anderen Nachnamen tragen. Ria würde jetzt sagen, dass irgendwas passieren wird, weil niemals alles auf lange Zeit so gut läuft. Zum Glück glaube ich das nicht.
Ich glaube nicht, dass es ein Schema gibt bei dem man sagen kann, wann etwas schief läuft oder gut. Klar, man redet immer von der Achterbahn des Lebens, dass nach schlechten Zeiten auch immer wieder was Gutes kommt und irgendwie stimmt das auch. Aber ich denke, dass alles Leid von uns abhängig ist. Nichts passiert einfach so. Ich will nicht sagen, dass wir selbst an allem Schuld sind, manchmal sind es auch andere, aber ich denke, dass ich vieles was schlecht ist weniger ernst oder wichtig nehmen würde, wenn ich weniger über alles nachdenken würde. Das was zum Beispiel andere über mich sagen, zieht mich manchmal so runter obwohl es dass nicht sollte. Und daran bin ich selbst Schuld. Das was andere sagen macht mich nicht aus. Es sollte mich nicht definieren. Ich bin so wie ich bin, wie ich sein möchte und wie ich sein sollte. Egal was andere dazu sagen!

"Alles okay?" fragte Julie mich auf dem Rückweg. "Ich denke gerade nur über etwas nach."
Sie schaute mich mit einem fragendem Blick an. "Ach, nicht weiter wichtig. Hat nichts mit morgen oder so zu tun." lächelte ich sie an. "Okay. Sind deine Freunde eigentlich schon da oder kommen die erst morgen?" fragte Julie weiter. "Meggy und ihr Freund V sind schon da. Ria kommt erst heute Abend irgendwann." sagte ich und schaute gleich mal auf mein Handy um zu sehen ob Meggy mir geantwortet hatte. 'Wir sind im Ibis Budget Hotel Hannover Hauptbahnhof oder so...' Hatte sie geschrieben. "Ich finde das so komisch, dass der Typ einfach V heißt. Ist das ein Spitzname?" fragte Julie und lachte dabei. "Ich glaube der heißt eigentlich Kim Tae-hyung oder so." überlegte ich laut. "Und Ria hat keinen Freund? Sie heißt eigentlich Maria stimmt's?" Ich hatte Julie schon viel über Meggy und Ria erzählt, aber einiges hatte ich wohl vergessen zu erwähnen oder sie hat vergessen, dass ich es ihr erzählt hatte. Wie auch immer. "Also so weit ich weiß, hat sie keinen Freund, weil ihr Russe, den sie hatte sie sitzen gelassen hat für eine andere. Ziemlich mies wenn du mich fragst. Naja und jetzt hat sie erstmal keinen Bock auf eine Beziehung. Sie sagt immer, dass niemand sie verletzen kann wenn sie niemanden an sich ran lässt." erklärte ich. "Die ist ja mal voll der Pessimist."
"Ich weiß. Sie sagt aber immer, dass sie Realist ist. Ich hab sie trotzdem lieb." sagte ich und lächelte dabei. "Hattet ihr nicht mal voll den Streit wegen Leo? Er hatte mir da mal sowas erzählt..." fragte Julie neugierig. "Ja, aber das ist Vergangenheit. Sie war in Leo verknallt, der war aber in mich verknallt. Und dann hatte Leo mich geküsst und alle waren sauer auf uns. Lukas ist im Achteck gesprungen vor Wut und Ria war super wütend auf mich, weil sie dachte ich würde auch was von Leo wollen. Naja, wir haben dann ewig nicht miteinander geredet und vor...uff...zwei Jahren oder so haben sie und Iwan mich besucht und sie hat sich halt entschuldigt und so. Achso Iwan war zu dem Zeitpunkt  noch ihr Freund. Die waren so süß zusammen, deswegen habe ich es auch nicht verstanden, dass er sie hat sitzen lassen."

"Ist dir eigentlich mal bewusst geworden, dass du so ein Glück hast im Thema Liebe?" sagte Julie und machte ihren Zopf neu. "Dein erster Freund war Lukas, ihr wart nie getrennt, habt euch schon immer geliebt, heiratet jetzt, habt das schönste Haus das ich je gesehen habe und ihr bekommt sogar ein Kind. Ey du kannst so verdammt dankbar sein. Ich wünschte, dass das bei Leo und mir auch auf Anhieb geklappt hätte. Wir hätten uns so viel sparen können..."
"Du hast Recht. So hab ich das noch gar nicht gesehen."

Als ich zuhause ankam machte ich mich gleich daran unseren Kleiderschrank fertig einzuräumen. Als ich Lukas' Seite des Schrankes öffnete um auch seine Sachen fertig einzuordnen fand ich einen zusammengefalteten Zettel in seinem Socken Schubfach. Ich wollte ihn nicht lesen, deswegen legte ich ihn einfach zur Seite und räumte auch hier alles ein. Dann legte ich den Zettel wieder zurück und ging in die Küche um was zu trinken. Was wohl in dem Zettel stand? Eigentlich geht es mich ja nichts an, aber irgendwann hielt ich es dann doch nicht mehr aus und ging wieder hoch um nachzusehen. Ich setzte mich mit dem Zettel auf das Bett und öffnete ihn. Ich überflog ihn kurz und war schockiert. Es war eine ärztliche Bestätigung. Eine Bestätigung, dass er sich zwei Rippen gebrochen hatte. Ich schaute auf die Uhr. Es war genau 16 Uhr. Lukas müsste also in den nächsten 10 Minuten hier auftauchen. Ich ging wieder in die Küche und legte den Zettel auf die Kücheninsel, dann lenkte ich mich ab indem ich das Besteck in die Schublade einsortierte.

"Du solltest den nicht sehen." sagte Lukas der plötzlich hinter mir stand. Ich fiel vor Schreck fast von dem Hocker, auf dem ich stand um Schüsseln und Tassen einzusortieren.






Kiss me (Lukas Rieger FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt