Chapter 58

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Ich war nie gerne alleine unter fremden Menschen. Ich brauchte schon immer ewig um aufzutauen. Ich war es gewohnt immer als erstes mitleidige Blicke wegen des Rollstuhls zu bekommen, aber jetzt war das nicht mehr so. Jetzt wurde keine Rücksicht auf mich genommen. Ich wurde in großen Mengen angerempelt so wie alle anderen auch, ich wurde so behandelt wie jeder. Und das gefiel mir. Keine mitleidigen Blicke, keine dauerhafte Aufmerksamkeit, niemand betätschelte mich mehr von oben. Ich wurde ernst genommen. Ich konnte mich einfach verkrümeln und für mich sein.
Das Gebäude war groß und lud förmlich zum Verlaufen ein. Wir hatten heute nur bis 12 Uhr 'Unterricht', weil uns heute alles gezeigt und erklärt werden sollte. Verschiedene Fächer wurden uns bereits in einer E-Mail genannt. Es gibt Fächer die wir zwingend machen müssen wie Deutsch, Englisch, Religion oder Ethik und Sozialkunde. Und dann müssen wir aus 13 weiteren Fächern 8 wählen, die wir zu den 4 Pflichtfächern machen müssen. Heute sollen wir uns in die entsprechenden Kurse einwählen. Also im Grunde ist es vom Prinzip her wie in der Oberstufe des Gymnasiums.
Außer der Fächervorstellung werden wir heute natürlich in Klassen mit entsprechenden Kursleitern aufgeteilt und heute Abend bekommen wir dann per Mail unseren Stundenplan.

Auf dem Schulhof standen überall kleine Grüppchen. Nur vereinzelt ein Paar Leute die alleine waren. Wie ich erwartet habe, gab es nicht allzu viele männliche Wesen, aber tatsächlich sogar mehr als gedacht. Die Mädels waren natürlich in der Überzahl, aber überraschen tat es mich trotzdem. Man sagt schließlich immer, dass soziale Berufe Frauenberufe sind.

Der erste Tag war sehr anstrengend. Einfach weil wir so unglaublich viele Informationen bekommen habe und ich das Gefühl hatte, dass mein Kopf gleich platzen würde. Auf meinem Weg nach Hause fragte ich Lukas via WhatsApp ob er Zeit zum telefonieren hätte und wartete auf eine Antwort. Als ich daheim ankam, schmiss ich meine Tasche in die nächste Ecke und zog mich um, da ich zum Eiscafé musste. Wieso muss man eigentlich für Geld arbeiten? Kann ich nicht so einen krassen Esel haben der Geld kackt? Das wäre viel entspannter. Mein Handy vibrierte, als ich eine Nachricht von Lukas bekam.

hey süße. bin noch beschäftigt, aber ab acht hab ich zeit. ich liebe dich!

Ich wählte kurzerhand die Nummer von Helena, in der Hoffnung, dass sie dran gehen würde. "Hanna?" fragte sie als sie ran ging. "Hey Helena. Hast du kurz n Moment?" fragte ich sie. "Theoretisch schon, praktisch aber nicht so wirklich wieso?" fragte sie. "Na gut, dann will ich dich nicht stören. War schön zu hören, dass du noch lebst. Bis später!" sagte ich. "Äh okay. Ja tschau!" gab sie noch von sich bevor ich auflegte.
Ich machte mich entspannt fertig für die Arbeit und hängte noch schnell gewaschene Wäsche auf. Dann machte ich mich auf den Weg zum Eiscafé. Dort traf ich Julie wieder. Sie hatte sich heute in ähnliche Kurse eingewählt wie ich und deswegen werden wir uns jetzt häufiger sehen, was natürlich nichts schlimmes ist.
Stefanie schmiss mir ein Handtuch zu, als ich die Küche betrat. Vor Schreck ließ ich meine Tasche fallen, fing aber das Handtuch. "Du darfst abwaschen!" sagte sie und ich sah sie kurz verwirrt an bevor ich verstand was sie von mir wollte. "Julie, du machst das Eis für die Passanten draußen."

Wir machten uns an die Arbeit. Heute war wesentlich mehr los als gestern. "Normalerweise ist Sonntags die Hölle los. Ihr hattet echt Glück gestern. So wie jetzt ist es meistens." sagte sie und reichte Julie ihre Schürze.
Wenn keine Kunden da waren, stand Julie bei mir, sah mir zu und wir unterhielten uns. Sie hielt aber immer die Tür im Blick. Wir redeten über unsere Kurse und die Gründe die uns dazu bewegt hatten uns dafür zu entscheiden. Dann kamen wir im generellen darauf zu sprechen, was wir mit unserer Ausbildung machen wollen. "Ich weiß nicht wie das kam, aber den Wunsch etwas mit Jugendlichen zu machen hatte ich schon immer. Kannst du mir Mal die Schüssel neben dir reichen? Ich helfe gerne und ich will, dass es der Jugend besser geht. Ich hab das Gefühl, dass das alles den Berg runter geht. Jeder verhält sich wie der andere. Jeder passt sich an. Selten tut Mal einer das was er oder sie selbst tun will. Alles muss so getragen werden wie der Trend es vorschreibt. Jeder muss sich so verhalten wie man es von einem erwarten würde. Wenn sie einen Freund hat, dann muss ich auch unbedingt einen Freund haben! Dieses Denken macht meiner Meinung nach die Generation und folgende Generationen kaputt. Keiner entfaltet sich so wie er es möchte, weil leider die wenigen die das machen ausgeschlossen werden oder gehänselt deswegen. Ich will so Leute einfach unterstützen. Gerade wenn man in der Pubertät ist, ist es wichtig irgendwo eine Bestätigung zu bekommen, damit man sich irgendwie angenommen fühlt in der Gesellschaft. Ich hoffe du verstehst was ich meine..." erklärte ich meine Sichtweise der Dinge. "Also wenn ich das richtig raus lesen konnte, willst du hauptsächlich dich um Mobbing und co. kümmern?" Ich nickte als Bestätigung. "Also, ich würde total gerne Jugendlichen mit Drogenproblemen helfen. Es gibt immer mehr und vor allem immer jüngere Leute die sich an sowas ausprobieren. Ich möchte ihnen helfen damit klar zu kommen und die Gründe für den Drogenkonsum zu lösen." fuhr Julie fort. "Stimmt, das ist auch ganz interessant! Ich freue mich schon auf das Praxissemester. Ich glaube das wird ganz interessant." sagte ich, wieder in Anspielung auf die Schule. "Ich finde es ja krass, dass wir einfach fast das selbe vor haben. Die meisten wollen in den Kindergarten oder ins Altersheim als Betreuer, aber du willst genau das selbe machen wie ich. Es denkt fast keiner daran, das auch Jugendliche in Heimen leben können." erzählte Julie. "Stimmt, das ist mir so noch gar nicht aufgefallen."

Als ich kurz nach sieben das Café verließ und auf dem Weg nach Hause war rief Lukas doch noch kurz an. "Hey! Schön das du noch lebst." scherzte ich als ich ran ging. "Hier ist Faye!" sagte eine weibliche Stimme am Ende der Leitung. "Wieso rufst du mich mit Lukas' Handy an?" fragte ich sichtlich verwirrt. "Eigentlich wollten wir nur mit der U-Bahn zurück zum Hotel fahren, aber da war so ein verrückter Typ am Bahnhof und hat ein Mädchen bedrängt und Lukas wollte dem Mädchen helfen, aber der Typ hat ihn niedergeschlagen. Ich weiß nicht was ich tun soll. Ich sitze hier mitten in Berlin und Lukas wurde vom Krankenwagen mitgenommen. Karsten reagiert nicht auf meine Nachrichten. Ich hab kein Geld mit." schilderte sie in Windeseile die Situation. Ich hatte mich so auf das fixiert was sie gesagt hatte, sodass ich fast von einem Auto über den Haufen gerannt wurde. "Ach du scheiße." war das erste was mir in den Sinn kam. "Versuch dich irgendwo rein zu setzen und  schreib mir wo genau du bist. Ich versuche dir ein Taxi vorbei zu schicken. Rechnung geht auf mich. Und sag mir bitte bitte bescheid sobald du was von Lukas weißt." Ich hörte das sie weinte. Das muss ein Schock für sie sein. Sie ist doch selbst erst 15. "Okay. Danke für deine Hilfe! Kannst du noch kurz dran bleiben? Ich hab Angst, alleine in Berlin rum zu laufen. Vor allem nach dem was ich gesehen habe." Ich hatte vollstes Verständnis für ihre Angst und versuchte sie ein wenig zu beruhigen, während ich nach Hause lief.

Kiss me (Lukas Rieger FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt