Ich rannte

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Ich rannte. Und rannte. Und rannte.

Ich rannte fort von ihm, so schnell meine Füße mich nur irgendwie tragen konnten. Ich war schon über viele Baumwurzeln geklettert und durch Bäche gerannt. Mein Kleid war von Dornen zerrissen worden und ich spürte meine Füße kaum noch.  Schon bald würde ich aufgeben müssen. Aber das würde ich nicht tun. Niemals.
Er war immer noch hinter mir her. Das war Grund genug weiter zu rennen, immer weiter.

Nein, er hatte mich nicht verhungern oder verdursten lassen. Er hatte mich nicht geschlagen. So schlimm war es, wenn ich es mir recht überlegte, vielleicht doch nicht gewesen... Vielleicht sollte ich einfach... aufgeben.....

Nein. Soweit würde es nicht kommen. Er hatte mich, mein Talent, ausgenutzt. Denn das war der Grund weshalb er hinter mir her war und mich nicht entkommen lassen wollte. Ich hatte ihn berühmt gemacht. Ihn, Enrico, den Magier, den besten Wahrsager aller Zeiten.
Es war alles ein Schwindel. Doch nicht ganz so wie man vielleicht denkt. Die vorhergesagten Dinge wurden nämlich wirklich wahr. Doch nicht er war derjenige, der die Dinge vorhersagte.

Sondern ich.

Früher war er mit seinem Wohnwagen umher gezogen. Er trat auf bei Jahrmärkten, neben Zirkuszelten. Damals war er noch ein gewöhnlicher Jahrmarktmagier. Doch dann begegnete er mir und meinem Talent. Ich konnte Gegenstände, die Menschen verloren hatten wiederfinden. Die Menschen kamen zu ihm und erzählten ihm, welchen Gegenstand sie vermissten. Ich saß hinter einem Vorhang und hörte zu. Und dann überlegte ich, wie die Häuser dieser Menschen wohl aussehen könnten. Wo ein Schrank stand, wo ein Teppich lag. Ich überlegte mir, wo diese Menschen wohl zur Arbeit gingen, in was für einem Restaurant sie vielleicht am vorigen Abend gegessen hatten. Und dann kam Enrico zu mir und ich musste ihm erzählen, wo der verlorene Gegenstand war.
Und es stimmte immer.

So war er zum besten Wahrsager aller Zeiten geworden. Auf dem Schild an seinem Wohnwagen stand zwar, dass man dort die Zukunft erfahren konnte, doch die Menschen wussten, dass es hier weitaus mehr gab als nur eine erfundene Zukunft.

Es waren am Anfang vor allem Menschen aus den Dörfern die hierher kamen. Ich fand ihre Kämme, ihre Schlüssel. Doch nach einiger Zeit kamen fast ausschließlich reiche Menschen zu Enrico. Ich sollte Bankpässe, Autos, Diamanten wiederfinden. Einmal sogar ein Baby. Jahrelang war es so gegangen.

Aber jetzt, in einem unbewachten Augenblick, war es mir gelungen zu fliehen. Ich hatte immer noch schreckliche Angst vor ihm, doch ich durfte nicht aufgeben. Ich wollte ihm nicht für immer Reichtum und Ehre bringen. Ich wollte nicht, dass man mich benutzt.

Also musste ich rennen, weiter, immer weiter. Doch ich konnte nicht mehr. Ich war viel zu müde und es wurde schon Abend. Ich versuchte mich umzuschauen, doch die Büsche und Bäume die überall um mich herum standen waren viel größer als ich. Ich wusste nicht wo ich war. Ich hatte den mir bekannten Wald schon eine Weile hinter mir gelassen. Irgendwo hinter mir erklangen stampfende Schritte. Oder bildete ich es mir nur ein? Nein, ganz klar. Das musste Enrico sein.

Ich kauerte mich ins Dickicht, machte mich ganz klein. Ich schloss die Augen und wünschte mir, dass jemand kommen und mir helfen würde. Jemand der mich gern hatte. Das war eigentlich alles was ich suchte. Ein kleines Stückchen Liebe.

Die Angst vor Enrico war die ganze Zeit über da gewesen. Sie hatte beim Rennen meine Brust umklemmt und mich Enricos Atem in meinem Nacken spüren lassen. Doch jetzt ließ ich die Angst los. Ich konnte eh nichts dagegen tun wenn er mich zurückholen wollte. Entweder er schaffte es oder auch nicht, aber ich würde heute keinen Schritt mehr tun.

Also legte ich mich auf den Boden und spürte, wie befreit ich ohne diese Angst war. Solange ich mich erinnern konnte, war ich bei Enrico gewesen und immer war diese Angst da gewesen, mal mehr und mal weniger stark. Nun, wo ich vor ihm weggerannt war und er mich verfolgte, verschwand die Angst. Ich fühlte mich befreit und ruhig. Ich schaute nach oben, zu den Sternen die langsam erschienen. Ich wünschte mir, dass jemand kommen würde. Jemand der dafür sorgen würde, dass ich mich nie mehr vor Enrico zu fürchten brauchte. Jemand der mich in den Arm nehmen würde.

Ich schlief langsam ein und das letzte was ich hörte, war eine Stimme die leise sprach "Alles wird gut, keine Angst. Alles wird gut." Und zwei starke Arme hoben mich vorsichtig hoch. Ich kuschelte mich gegen seine Brust und spürte gerade noch, wie er mit mir in seinen Armen anfing zu gehen. Und eine Frau sagte "Keine Angst. Es ist vorbei."

Ich war gerannt und gerannt und gerannt. Nun brauchte ich nicht mehr zu rennen.

Meine Angst hatte mich gefesselt. Nun war ich frei.

Ich sehe was, was du nicht siehstWhere stories live. Discover now