26 - Die Gene

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„Was bedeutet diese Krankheit?", stellte ich die Frage, die mir am meisten Angst machte.

Noch immer saßen wir bei ihm im Wohnzimmer auf der Couch.

"Willst du wirklich die Details wissen?", hakte er nach.

Ich nickte angsterfüllt.

„Man hat seine Muskeln nicht unter Kontrolle", begann er zu erklären. "Das betrifft nicht nur die Gliedmaßen, sondern auch die Mimik und das Gehirn. In den ersten Jahren sind die Bewegungen unkoordiniert. Später erschlaffen die Muskeln, man wird bettlägerig  und letztendlich kommt die Demenz. Und das schon im relativ frühen Alter."

Es entstanden Bilder in meinem Kopf, die ich sofort wieder loswerden wollte. Ich wollte Greta niemals so sehen müssen.

„Deshalb wollte ich nie meine Gene weitergeben. Ich will das niemanden antun. Ich fühle mich so schuldig."

„Es ist nicht deine Schuld", ließ ich ihn wissen und versuchte irgendwie posotivi zu klingen. „Und wir wissen doch auch noch gar nicht, ob Greta es hat. Vielleicht haben wir ja Glück und sie bleibt verschont. Warum hast du nie den Test gemacht?"

„Ich will es nicht wissen", sagte er sofort. "Ich kann ohne die Diagnose relativ unbeschwert leben."
„Vielleicht hast du es ja auch gar nicht? Dann machen wir uns gerade ganz umsonst fertig."

„Und wenn doch? Stell dir vor, du müsstest mit der Gewissheit leben, dass in deinem besten Alter anfangen deine Muskel zu zucken und dass du dement werden wirst bevor die Rente überhaupt in Sicht ist. Ich will nicht mit dieser Gewissheit leben."

„Wussten es dein Vater und dein Bruder?"

Seine Augen wurden wieder wässrig.

„Mein Vater hatte es nicht gewusst. Als bei ihm die Krankheit diagnostiziert wurde, waren meine Geschwister und ich alle schon auf der Welt. Ich denke nicht, dass meine Eltern uns bekommen hätten, wenn sie gewusst hätte, was für Gene sie weitergeben. Mein Bruder wollte den Test auch nie machen. Erst als die Symptome anfingen, bekam er die Diagnose. Daraufhin hat sich auch meine kleine Schwester testen lassen, die bis dahin noch keine Symptome hatte. Ihrer Test war positiv. Da war sie gerade mal 18 und soll ich dir sagen, was passiert ist?"
Ich nickte zögernd.

„Sie hat sich umgebracht noch bevor sie irgendwelche Symptome hatte. Sie hatte ihren Vater und ihren Bruder leiden sehen. Sie wusste genau, was sie erwarten würde und das wollte sie nicht. Also hat sie Suizid begangen."

Mir gefror das Blut in den Adern.

Ich hatte ja keine Ahnung, was Marius schon alles hatte erleben müssen. Drei Menschen hatte er schon durch diese Krankheit verloren. Und jetzt vielleicht auch noch Greta.

Meine kleine süße Greta.

Sie dürfte es einfach nicht haben. Ich versuchte optimistisch zu sein. Es bestand die Chance, das sie ein komplett gesundes Kind war. Daran musste ich glauben! Alles andere würde ich eh nicht ertragen können.

„Das tut mir so leid", ließ ich ihn wissen und legte meinen Kopf auf seiner Schulter ab.

„Mir tut es leid", sagte er und streichelte meinen Rücken.

„Wie hast du dir denn vorgestellt, wie es jetzt weitergeht?", erkundigte ich mich bei ihm.

Auch wenn Greta dieses Gen vielleicht wirklich hatte, so würde sie trotzdem noch ein paar wundervolle Jahrzehnte haben können. Das dürften wir nicht vergessen. Und die Frage blieb: Würde er für sie ein Vater sein wollen?

„Ich möchte für sie da sein. Egal, was kommt", kam es sofort aus seinem Mund.

Das war der Satz, den ich in diesem Moment wirklich gebraucht hatte.

„Danke, Marius. Du glaubst gar nicht, wie viel mir das bedeutet."

„Dafür brauchst du dich nicht zu bedanken. Ich bin ihr Vater. Das ist selbstverständlich."

Dieser Satz könnte so schön sein, wenn nicht diese Scheißerbkrankheit wäre. Ich konnte es noch immer nicht richtig begreifen. Zwar hatte ich gehört, was Marius gesagt hatte, aber so richtig realisiert hatte ich noch immer nicht, was das für Greta wirklich bedeuten konnte. Und die Chance, dass sie es bekam war verdammt hoch. Es war als würde man eine Münze werfen.

„Marius, ich möchte sie testen lassen. Ich muss es einfach wissen. Ich brauche Gewissheit." Er atmete schwer aus und sagte nichts. „Falls sie die Krankheit hat, dann hast du sie automatisch auch, oder?"

Er nickte.

„Es ist dann zumindest sehr wahrscheinlich."

„Ich muss es einfach wissen. Wenn du magst, kann ich das Ergebnis auch für mich behalten. Aber ich muss wissen, ob Greta es hat."

Er schien diese Aussage nicht zu unterstützen.

„Ich denke, es wäre besser, wenn du keinen machen lässt. Genieß doch einfach das Hier und Jetzt mit ihr. Sollte sie wirklich die Diagnose bekommen, ist das ein Countdown, der ständig tickt."

„Diese Unwissenheit ist für mich schlimmer als der Countdown."

Er atmete laut aus.

„Würdest du es ihr denn sagen? Würdest du ihr sagen, dass sie todkrank ist falls sie die Diagnose bekommt?"

Es war klar, dass ich das nicht sagen würde, solange sie noch ein Kind war. Doch wenn sie alt genug war, müsste ich ihr das sagen. Es machte schon einen Unterschied, ob man davon ausging bis 45 zu leben oder bis 85.

„Irgendwann vermutlich schon."

Diese Antwort schien ihm nicht zu gefallen.

Diese Situation war so verfahren.

"Sag mal, wenn du wissen würdest, dass du das Gen hast, was würdest du denn machen?", fragte ich möglichst sensibel.

Er schwieg für einen Moment, doch ich war mir sicher, dass er sich schon intensivst mit dieser Frage auseinander gesetzt hatte. 

"Ich möchte nicht wie mein Bruder und mein Vater enden", antwortete er knapp.

"Was meinst du?"

"Sollten bei mir Symptome auftreten, würde ich es beenden, sobald ich das Gefühl hätte nicht mehr die Kontrolle über mich selber zu haben."

Das war wohl die Umschreibung dafür, dass er sich umbringen würde. Ich konnte es ihm nicht einmal verübeln.

My Little SecretWhere stories live. Discover now