4 - Von Hagen - Marius von Hagen

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Der Tag hatte heute schon nicht gut begonnen, als ich den Brief von meinem Vermieter in der Hand gehalten hatte, in dem uns der Rausschmiss angedroht wurde. Er hatte meine Bitte auf Ratenzahlung abgelehnt. Wenn ich nicht innerhalb der nächsten 4 Wochen 3500,00 Euro überweisen würde, dann müssten wir raus aus der Wohnung.

Ich versuchte den Gedanken an die Obdachlosigkeit abzuschütteln, denn ich musste jetzt einen guten Eindruck hinterlassen. Schließlich würde ich in wenigen Sekunden meinen Chef kennenlernen und immerhin war ich seine persönliche Assistentin. Ich hatte es trotz einer übermütigen Erstklässlerin zu Hause geschafft eine faltenfreie Bluse zu tragen und selbst meine Haare und mein Makeup waren makellos. Ich konnte nur hoffen, dass das nicht jeden Tag gefordert war. Als Alleinerziehende von einem Wirbelwind war ich schon froh, wenn mir morgens keine Cornflakes im Haar klebten.

„Herr von Hagen hatten Sie ja noch gar nicht kennengelernt, oder?", erkundigte sich die Sekretärin bei mir.

Ich fragte mich, was an dieser Frau echt war. Die Brüste waren es nicht. Wimpern, Fingernägel, Haarfarbe und Hautfarbe auch nicht. Und das Grinsen schon gar nicht.

„Nein, er war bei dem Vorstellungsgespräch verhindert", erklärte ich. „Ich hatte das Gespräch mit Herrn Voigt."

„Ah ja. Ich erinnere mich. Herr von Hagen ist im Moment noch bei einem Termin. Sie müssten sich also noch kurz gedulden. Er wird aber gleich da sein."

„Ist gut."

Ich war enttäuscht gewesen, als ich auf der Firmenhomepage kein Bild von meinem zukünftigen Chef finden konnte. Zu gerne hätte ich schon ein Gesicht vor Augen gehabt. Ich stellte ihn mir als drahtigen älteren Mann vor, der einen maßgeschneiderten Anzug trug und das Grinsen einen Mafiabosses hatte. In dieser Branche war Skrupellosigkeit schließlich Vorraussetzung um einen hohen Posten einnehmen zu können.

Als die Tür zum Büro aufschwang, gefror mir jedoch das Blut in den Adern. Das war kein älterer Mann und es war auch nicht irgendjemand. Ich kannte ihn. Nicht gut, aber gut genug, um mit ihm ein Kind zu haben. Ein Kind von dem er nichts wusste.

Es war Marius.

Ich hatte nie seinen Nachnamen gekannt. Doch nun wusste ich es.

Von Hagen.

Marius von Hagen.

Ich fühlte mich auf einmal so klein wie Ameise, die jeden Moment befürchten musste zertrampelt zu werden.

Er hatte sich in den letzten Jahren offensichtlich nicht viel verändert. Er hatte eher Muskelmasse aufgebaut als abgebaut. Und er schien zu der glücklichen Minderheit von Männern zu gehören, wo der Haarausfall noch nicht mit 30 einsetzte.

Ich hingegen hatte dank der Schwangerschaft Dehnungsstreifen, Hüftspeck und schlaffe Brüste bekommen.

„Herr von Hagen, darf ich vorstellen: Ihre neue Assistentin Frau Schneider."

Sein Blick wanderte zu mir.

Ich schluckte schwer. Die Frosch in meinem Hals war definitiv adipös.

Es war über sieben Jahre her. Es war nur eine Nacht gewesen. Wie standen die Chancen, dass er sich an mich erinnern konnte? Eigentlich schlecht. Doch ich war diejenige von seinem Junggesellenabschied gewesen. Merkte ein Mann sich so etwas?

Ich sah ihm in die Augen und kannte sofort die Antwort: Nein, man merkte sich so etwas nicht. Er hatte keinen Plan, wer ich war.
Lass dir bloß nichts anmerken!

„Ach Frau Schneider", schleimte er. „Das freut mich, das wir uns endlich kennenlernen."

„Ganz meinerseits", brachte ich mit Mühe hervor und erwiderte seinen kräftigen Händedruck. Das war der Händedruck eines Anführers. Keine Frage.

„Frau Hübner wird Sie in den nächsten Tagen einarbeiten." Er nickte in Richtung des Kunstobjekts mit den neonpinken Fingernägeln. „Ich hoffe, dass wir schnell ein gutes Team werden. Wir haben hier einen hohen Leistungsanspruch."

Ich nickte brav und konnte nicht glauben, dass ich seine persönliche Assistentin sein sollte. 'Das Schicksal war ein mieser Verräter' hätte der Titel zu meinem Leben sein sollen und nicht von einem Jugendroman!

„Was den Leistungsanspruch betrifft, sind wir schon mal auf einer Wellenlänge", schleimte ich und es schien ihm auch noch zu gefallen.

Er richtete kurz seine Krawatte und grinste mich an.

„Ich habe ein gutes Gefühl, was uns beide betrifft!"

War das gerade ein Flirtversuch?

Am liebsten würde ich mir den Notizblock vom Schreibtisch gegenüber klauen und dort schnell meine Kündigung raufkritzeln um sie formgerecht schriftlich abgeben zu können. Doch ich brauchte das Geld. Ich stand eh schon mit einem Bein auf der Straße. Ich konnte diesen Job nicht aufgeben.

Ich sah mir sein Gesicht an. Innerhalb der letzten Jahre war meine Erinnerung an sein Aussehen verblasst. Schließlich hatte ich nicht einmal ein Foto von ihm besessen. Doch nun, wo er vor mir stand, erkannte ich die Ähnlichkeit zu Greta. Es war das Lachen. Ausgerechnet die schönste Mimik, die das menschliche Gesicht zu bieten hatte, musste sie von ihrem Vater haben.

My Little SecretNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ